Wirtschafts- und Finanzpolitik ist der Kern von Politik. Wer gestalten will, muss auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik Einfluss nehmen. Das gilt erst recht für eine Politik, die mehr Nachhaltigkeit erreichen will. Im Prinzip ist das zwar eine banale Erkenntnis, dennoch haben sich in der politischen Praxis die Umweltbewegung, Entwicklungsorganisationen oder andere, die sich für nachhaltige Entwicklung einsetzen, in Sachen Wirtschaftspolitik eher aus der Tagespolitik herausgehalten. Die theoretisch anspruchsvollen Konzepte für nachhaltiges Wirtschaften, die aus der Umweltbewegung kamen, hatten so gut wie nie praktische politische Relevanz – eine der seltenen Ausnahmen war die Ökologische Steuerreform 1999, die allerdings nach wenigen Jahren stillschweigend beerdigt wurde.
Ergebnisse einer verfehlten Außenhandelspolitik
Inzwischen beginnt sich das zu ändern. Dies ist weniger das Verdienst des Nachhaltigkeitsdiskurses, als ein vermutlich unvermeidbares Resultat der Tatsache, dass die heutige Wirtschaftspolitik überall auf der Welt immer weniger Gewinner und immer mehr Verlierer produziert und damit in eine Legitimitätskrise gerät. Schon mit der Finanzkrise 2008 und der anschließenden Euro-Krise dämmerte vielen Menschen, dass unser angeblich „alternativloses“ Wirtschaftssystem fundamental nicht-nachhaltig ist. In nahezu allen westlichen Industrieländern und auch vielen Schwellenländern hat sich die Wirtschaftspolitik seit dem Erdgipfel 1992 weit von den Geboten nachhaltigen Wirtschaftens wegbewegt. Unter den Vorzeichen neoliberaler Ideologie haben Regierungen Handelsabkommen – allen voran die WTO-Verträge – geschlossen, mit denen sie die für eine Transformation zur Nachhaltigkeit erforderlichen Regulierungsmöglichkeiten durch neue und durchsetzungsstarke völkerrechtliche Verträge erschwert haben. In allen Handelsverträgen wird explizit untersagt, Produkte nach ihrer Herstellungsweise unterschiedlich zu behandeln: Ein T-Shirt ist ein T-Shirt, egal ob die Näherinnen ausgebeutet oder anständig bezahlt wurden. Ein Computer ist ein Computer, egal ob bei seiner Herstellung die Umwelt verseucht oder umweltgerecht gewirtschaftet wurde. Nachhaltigkeit spielt in Handelsabkommen keine Rolle, abgesehen von folgenlosen Präambeln oder sogenannten „Nachhaltigkeitskapiteln“, denen im Gegensatz zum Rest der Verträge die Durchsetzungsmechanismen fehlen.
Das wenig überraschende Ergebnis ist, dass es im Zeitalter schrankenloser globaler Konkurrenz ein klarer Wettbewerbsvorteil ist, wenn Produktionsketten – auch „Wertschöpfungsketten“ genannt – globalisiert werden und dabei möglichst viel in Länder ausgelagert wird, deren Realitäten genau diese Ausbeutung und Raubbau an der Umwelt zulassen. Nicht nur die multinationalen Konzerne des Nordens, sondern auch die Eliten aus den Schwellenländern verdienen an diesem System hervorragend. Allerdings hat das mit „Entwicklung“ wenig und mit „Nachhaltigkeit“ gar nichts zu tun. Die fatalen Konsequenzen drängen sich periodisch bei Katastrophen wie dem Rana-Plaza-Einsturz in Bangladesch oder der Giftschlammlawine im brasilianischen Rio Doce immer wieder in die Schlagzeilen. Aber außer betroffenen Gesichtern und schwer kontrollierbaren „freiwilligen Selbstverpflichtungen“ sind die Konsequenzen in der Regel keine. Das Geflecht internationaler Handelsverträge lässt eine Regulierung solcher Produktionsketten im Sinne von mehr Nachhaltigkeit praktisch nicht mehr zu. Das ist kein Betriebsunfall, sondern ist genau der Zweck der Art von Globalisierung, die seit 1992 systematisch vorangetrieben wurde und weiter wird. Auf die Spitze getrieben würde diese Blockade von Regulierung im öffentlichen Interesse mit dem TTIP-Projekt. Die dort geplante und maßgeblich von der Bundesregierung verlangte „regulatorische Kooperation“ würde jeden Versuch, mit höheren Standards oder anderen Regulierungsmaßnahmen Nachhaltigkeit voranzutreiben, unter den Vorbehalt eines zu vermeidenden „Handelshemmnisses“ stellen und mit Investor-Staats-Klagen wegen „Gefährdung legitimer Gewinnerwartungen“ bedrohen.
Die Protagonisten des Welthandels
Neben den USA ist die Hauptprotagonistin dieser Politik die Europäische Union, die von ihren Mitgliedsstaaten die politische Zuständigkeit für Handelspolitik übertragen bekommen hat. Allerdings agiert die Generaldirektion Handel der EU-Kommission nicht im luftleeren Raum. Zwar ist Handelskommissarin Malmström eines der mächtigsten Mitglieder der Kommission, weil sie im Gegensatz zu den meisten ihrer Kollegen ein vergemeinschaftetes Politikfeld verantwortet. Dennoch bestimmen die Regierungen der Mitgliedsstaaten über den handelspolitischen Ausschuss des Europäischen Rates alle wesentlichen Fragen. Dieser Ausschuss entscheidet über Verhandlungsmandate, nimmt die Verhandlungsberichte entgegen, instruiert die Kommission bis in Details der Verhandlungsführung – alles unter kompletter Geheimhaltung, versteht sich. Niemand bekommt die Protokolle, die Tagesordnungen zu lesen, niemand erfährt welche Regierung wie abstimmt, was die jeweiligen Regierungen dort fordern, ablehnen, beschließen. Ob das Abstimmungsverhalten einer Regierung in Brüssel mit ihren öffentlichen Bekundungen übereinstimmt, erfährt kein Mensch. Dabei hat es potenziell enorme Auswirkungen, ob man beispielsweise Drittländern als Konzession für die Exportinteressen der Automobilindustrie mehr Zugang zum europäischen Agrarmarkt einräumt. Ob solche Deals in einem Handelsabkommen gemacht werden, entscheiden eine Handvoll Menschen aus den Wirtschaftsministerien und der Kommission faktisch alleine.
Demokratisch kontrolliert wird die europäische Handelspolitik kaum: in den Parlamenten der Mitgliedsstaaten wie dem Bundestag gibt es kaum noch kompetente Handelspolitiker, weil man ja kaum noch Kompetenzen hat. Nur wenn die Mitgliedsstaaten sich uneinig sind, kann die Kommission in signifikantem Umfang selbst Politik machen. Das Europaparlament hat weder direkten Einfluss auf Verhandlungsmandate noch auf die Verhandlungsstrategien. Hinzu kommt: nach zwei Jahrzehnten De-facto-Konsens über eine angeblich „alternativlose“ neoliberal geprägte Wirtschaftspolitik haben sich die meisten Parlamente kontroverse Diskussionen über die richtige Wirtschaftspolitik ohnehin abgewöhnt, so dass bis vor kurzem auch wenig Interesse der Parlamente deutlich wurde, mehr Einfluss in der Handelspolitik zu gewinnen. So ist Handelspolitik in der EU heute eine klare Domäne der Regierungen. Im Schatten der umfangreichen Geheimniskrämerei konnten Europas Exekutiven bis vor kurzem weitgehend unbeeinflusst von der Öffentlichkeit oder parlamentarischer Opposition schalten und walten wie sie wollten. Sie haben ihre Politik deshalb mit bemerkenswerter Kontinuität durchgezogen, praktisch unbeeinflusst von jeder Art von Regierungswechseln. Deutschland als dominierende Wirtschaftsmacht der EU und Exportweltmeister übt dabei naturgemäß einen bestimmenden Einfluss aus. Genauer gesagt, das Bundeswirtschaftsministerium.
Außenhandelsüberschüsse für Alle?
Angesichts der wirtschaftlichen Realitäten kann man sagen, dass das Bundeswirtschaftsministerium dies ausgesprochen erfolgreich getan hat. Die Handelspolitik hat weltweit erfolgreich Märkte geöffnet. Die deutschen Exportüberschüsse wachsen kontinuierlich, 2015 waren es sage und schreibe 247,8 Milliarden Euro. Jeder in Deutschland lebende Mensch hat statistisch 2.750 Euro Exportüberschuss gegenüber dem Rest der Welt erwirtschaftet. Leider ist es aber unmöglich, dass die Welt als Ganzes einen Exportüberschuss erwirtschaftet. Der Exportüberschuss des einen ist zwingend das Handelsbilanzdefizit woanders. Es gehört nicht viel Verstand dazu, zu erkennen, dass es nicht nachhaltig sein kann, wenn ein Land Jahr für Jahr seine Exportüberschüsse in immer neue Höhen steigert – auf Kosten des Rests der Welt. Dieses Ungleichgewicht verursacht längst enorme weltwirtschaftliche Probleme. Außerhalb Deutschlands wird dies offen diskutiert, in Deutschland selbst wird es tabuisiert. Die Steigerung der Exportüberschüsse ist und bleibt unbestrittene Staatsdoktrin.
Inzwischen haben die deutschen Exportüberschüsse Rekordhöhen von acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erreicht. Laut den Regeln der EU sind dauerhafte Leistungsbilanzüberschüsse von über sechs Prozent ein Problem für die Euro-Zone. Schon jetzt verletzt Deutschland seit 2007 ununterbrochen diesen Wert.
Längst untergräbt der deutsche Exporterfolg seine eigenen Grundlagen. Innerhalb der EU kann selbst Frankreich nicht mehr mit der deutschen Exportmaschine mithalten. Die Gemeinschaftswährung Euro führt zu einer systematisch unterbewerteten Währung in Deutschland – Grundlage der extremen Exporterfolge – und einer systematisch überbewerteten Währung in Frankreich und Südeuropa. Frankreichs wirtschaftliche Schwäche und die sinkende Kaufkraft wachsender Bevölkerungsanteile führte 2015 erstmals dazu, dass das Land auf Platz 2 der Rangliste der deutschen Handelspartner abrutschte. Auf Platz eins stehen jetzt die USA. Die USA sind aber das Land mit einem der größten Handelsbilanzdefizite der Welt – zu welchen Verwerfungen dies führt, kann man im US-Wahlkampf plastisch sehen. Der scharfe Konjunktureinbruch in China zeigt deutlich, dass eine derart extreme Orientierung auf Exporte, wie sie Deutschland betreibt, durchaus nicht ungefährlich ist. Wenn allen anderen die Puste ausgeht, kaufen sie weniger. Wie nachhaltig ist es, diese Exportüberschüsse noch weiter steigern zu wollen?
Auch die binnenwirtschaftlichen Grundlagen der extremen Exporterfolge geraten unter Druck. Maßgebliche Ursache für die hohe Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ist eine systematische Kostensenkungspolitik: Vor allem das gemessen am Rest Europas ausgeprägte Lohndumping führt zu einer Spaltung der deutschen Gesellschaft und auch der Gesellschaften in Europa, die immer mehr Spannungen verursacht. Seit Einführung des Euro ist das Reallohnniveau in der Eurozone in Deutschland am langsamsten gestiegen. Ein Drittel der Menschen in Europa sind mittlerweile wirtschaftlich abgehängt und bilden den Nährboden für Protestbewegungen aller Art. Jahrzehntelang waren die Eliten der Bundesrepublik Deutschland davon überzeugt, dass die Exporterfolge des Wirtschaftswunderstaats die Grundlage für den Wohlstand seien. Diese Gleichung funktioniert so nicht mehr. Der Preis, der für die Exporterfolge zu bezahlen ist, übersteigt zunehmend den Nutzen. Die Zurichtung der ganzen Gesellschaft auf „globale Wettbewerbsfähigkeit“ zerstört den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dass Lohn- und Sozialdumping die Wettbewerbsfähigkeit erhöhen soll, ist nicht zu leugnen – es gehört zu den Troika-Auflagen für die Euro-Krisenländer. Dieser Wettlauf nach unten ist das Gegenteil von Nachhaltigkeit.
Das Beharren der EU und der USA auf einer aggressiven Marktöffnungs- und Deregulierungspolitik ist auch die Hauptursache für die Blockade des multilateralen Handelssystems, der WTO. Seit der ersten Ministerkonferenz der frisch gegründeten WTO in Singapur 1996 versuchen EU und USA massiv, die Länder des globalen Südens zu immer weiteren Konzessionen zu zwingen. Nachdem dies in der WTO nicht gelang, folgte nach der Jahrtausendwende zunehmend die Umorientierung auf bilaterale, regionale und sektorale Abkommen, bei denen die Länder des globalen Südens machtpolitisch schlechter dastanden. Vor allem afrikanische Länder bekamen dies zu spüren – mit der Aufkündigung der bestehenden, eher entwicklungspolitisch orientierten Handelsabkommen (Lomé- und Cotonou-Abkommen) und der damit verbundenen Handelspräferenzen übt die EU bis heute massiven Druck auf viele afrikanische Länder aus, die „Economic Partnership Agreements“ mit der EU zu ratifizieren. Noch wehren sie sich erfolgreich. Von der „Fairer Handel statt freier Handel“-Rhetorik des BMZ ist in dieser Auseinandersetzung leider in der Praxis weit und breit nichts zu sehen. Gerade die EU-Handelspolitik gegenüber Afrika wird immer mehr zu einer Fluchtursache. Als Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt im Oktober 2015 seinen „Milchexportgipfel“ einberief, um die politisch verursachten Milchüberschüsse zu exportieren, fragte leider niemand, wie viele afrikanische Bäuerinnen und Bauern wir eigentlich noch ruinieren wollen. Ein Drittel der EU-Milchexporte gehen jetzt schon als Milchpulver nach Afrika – die Bauern dort können damit nicht konkurrieren. Selbst französische Bauern kommen nicht mehr gegen das aggressive deutsche Agrardumping an und blockieren öfter mal aus Protest die Grenzübergänge. Aber die EU will immer noch mehr Marktöffnung, bis auch der allerletzte Zoll, die allerletzte „Handelsbarriere“ gefallen ist. Wer es für „nachhaltig“ hält, überall auf der Welt und auch im eigenen Land bäuerliche Landwirtschaft in den Ruin zu treiben und globalen Agrarmultis die Kontrolle über die Märkte zu geben, hat das Konzept von Nachhaltigkeit nicht verstanden.
Alternativen sind dringend nötig
Immer mehr Menschen verstehen diese Zusammenhänge. Die europaweite Bewegung gegen TTIP entwickelt sich immer mehr zu einer Bewegung nicht nur für eine andere Handelspolitik, sondern hinterfragt auch die dahinterstehende Wirtschaftspolitik. Im Zeitalter der Globalisierung kann man Außenwirtschaftspolitik nicht mehr von der restlichen Wirtschaftspolitik trennen. Angesichts all dieser Probleme wäre es also höchste Zeit für eine kritische Bestandsaufnahme, ob die EU-Handelspolitik noch zeitgemäß ist. Davon wollen weder die Kommission noch die EU-Regierungen etwas wissen. Trotzig verkündete die Kommission im Oktober 2015 unter dem Beifall von Europaparlament und den Regierungen der Mitgliedsstaaten eine „neue“ EU-Handelsstrategie namens „Trade for all“, die faktisch nur den alten Kurs bestätigte, den man aber „besser kommunizieren“ möchte. Ein Dokument von gestern, eine Politik von vorgestern.
Wir brauchen daher einen ausführlichen, ergebnisoffenen öffentlichen Diskurs in allen Ländern Europas, was für eine Handels- und Wirtschaftspolitik wir eigentlich wollen. Was wollen wir mit ihr erreichen, was nicht, wem soll sie dienen, wem nicht. Wie wollen wir darüber entscheiden, und so weiter. Niemand, auch die Umweltverbände, die Gewerkschaften, der Kulturrat werden in einem solchen Diskurs 100 Prozent recht bekommen können. Aber was dabei herauskommt, ist gesellschaftlich weit mehr akzeptiert als die intransparenten, elitären Entscheidungen von heute, die offensichtlich immer mehr Verlierer und Gegner dieser Politik produzieren. Mehr Nachhaltigkeit kommt dabei mit Sicherheit heraus, denn die dafür eintretenden Interessenvertreter und Aktivistinnen werden in der Handelspolitik von heute systematisch ausgegrenzt.
Jürgen Maier
ist Geschäftsführer des Forums Umwelt und Entwicklung.