II.1. Armut und soziale Disparitäten in Deutschland

SDGs auch für uns!?
Arm und Reich in der Großstadt
Arm und Reich in der Großstadt
Ian Wood / flickr „Rich and Poor“ (CC BY-NC-ND 2.0)

Armut und soziale Ungleichheit stehen in einem engen Zusammenhang. Erst im September 2015 hat die Bundesregierung mit der Annahme der globalen 2030-Agenda für nachhaltige Entwicklung mit ihren Zielen für Nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) diesen Zusammenhang anerkannt und sich dazu verpflichtet, weltweit – also auch in Deutschland – dazu beitragen, Armut zu beenden und soziale Ungleichheit zu überwinden (SDGs 1 und 10). Dass die SDGs auch für Deutschland relevant sind, zeigen die sozialen Entwicklungen der vergangenen Jahre deutlich.

In der Europäischen Union (EU) ist seit den 1980er Jahren Konsens, nicht erst dann von Armut zu sprechen, wenn existenzielle Bedürfnisse wie Essen, Kleidung oder ein Dach über dem Kopf zu haben, nicht mehr gestillt werden können. Stattdessen wird von einem relativen Armutsbegriff ausgegangen. Arm sind danach alle, die über so geringe Mittel verfügen, „dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist“, wie es im entsprechenden Kommissionsbericht heißt.[fn] Europäische Gemeinschaft (1983).[/fn] Dies sei in aller Regel der Fall, wenn jemand weniger als die Hälfte bzw. 40 oder 60 Prozent des mittleren Einkommens einer Gesellschaft verfügt.[fn] Die 2030-Agenda nimmt die jeweilige nationale Armutsdefinition als Grundlage und hält fest, dass bis zum Jahr 2030 der Anteil der Frauen, Männer und Kinder jeden Alters, die in Armut in all ihren Dimensionen leben, mindestens um die Hälfte gesenkt werden muss (Ziel 1.2.).[/fn] Armut ist damit als ein dynamisches gesellschaftliches Phänomen erkannt. Mit zunehmendem Wohlstand einer Gesellschaft verändern sich Lebensweisen und es können neue Barrieren der Teilhabe entstehen, wenn dieser Wohlstand nicht alle relativ gleichmäßig erreicht. So kann nach diesem Konzept auch – oder gerade – bei wachsendem Reichtum (und zunehmender Einkommensspreizung) Armut in einer Gesellschaft durchaus zunehmen, selbst wenn die Kaufkraft aller im Durchschnitt steigen sollte. Das Konzept der relativen Einkommensarmut schließt nicht aus, Armut als „Mangel an Teilhabe“ oder „Mangel an Verwirklichungschancen zu begreifen“.[fn] Vgl. zusammenfassend Hauser (2006).[/fn] Ebenso wenig wird die Relevanz öffentlicher Infrastruktur oder nicht-monetärer Ressourcen bezweifelt. Doch trägt das Konzept der Tatsache Rechnung, dass Geld und Einkommen tatsächlich die entscheidende „Schlüsselressource“ darstellen, geht es um Teilhabemöglichkeiten und Verwirklichungschancen in dieser Gesellschaft.[fn]Vgl. dazu auch Butterwegge (2015).[/fn]

Nach den neuesten vorliegenden Berechnungen des Statistischen Bundesamtes,[fn]Amtliche Sozialberichterstattung (2014). Der Mikrozensus legt eine 60-Prozent-Einkommensschwelle zur Bestimmung der Armut zugrunde.[/fn] betrug die gesamtdeutsche Armutsquote im Jahr 2014 15,4 Prozent. Gegenüber den 15,5 Prozent des Vorjahres ist das ein Rückgang um 0,1 Prozent. Der Jahre lange Aufwärtstrend dieser Quote, die 2005 noch 14 Prozent betrug, ist damit für 2014 zwar erst einmal gestoppt.

Die Entwicklung der Armut korreliert, anders als oftmals behauptet, nicht mit dem Wirtschaftswachstum. Die Entwicklung der Armut scheint von der wirtschaftlichen Entwicklung und der Entwicklung des gesamtgesellschaftlichen Reichtums mehr oder weniger abgekoppelt Ähnlich wie in den Vorjahren hat sich das gute Wirtschaftswachstum 2014 mit einem Anstieg von 1,6 Prozent des preisbereinigten Bruttoinlandsprodukts nicht in einer ebenso deutlich sinkenden Armutsquote niedergeschlagen. Ganz im Gegenteil kann dieser zunehmende Reichtum noch zu einer weiteren Öffnung der Einkommensschere und noch größerer relativer Armut führen, wie ein Blick auf die Jahre 2007, 2008, 2011 und 2013 lehrt, in denen eine prosperierende Wirtschaft regelmäßig sogar von einer Zunahme der Armut begleitet war.[fn]Vgl. Schneider/Stilling/Woltering (2016).[/fn]

Hierzu passt, dass auch Armutsquoten, Arbeitslosenquoten und Hartz-IV-Quoten seit Jahren nicht mehr streng korrelieren. Während die Arbeitslosenquote seit 2005 von 11,7 bis auf 6,7 Prozent in 2014 rapide sinkt, wächst die Armut oder verharrt ihre Quote auf hohem Niveau. Wirtschaftliche Aufschwünge scheinen damit durchaus die gute Vermittlung gut vermittelbarer Arbeitskräfte zu unterstützen, erreichen jedoch nicht mehr die nach wie vor hohe Zahl der Langzeitarbeitslosen in Deutschland, die seit Jahren über einer Million liegt.

Die regionale Spreizung der Armutsquoten zwischen den Bundesländern ist erheblich. Sie reicht von Baden-Württemberg und Bayern mit 11,4 und 11,5 Prozent bis zu den Ländern Berlin (20,0), Sachsen-Anhalt (21,3), Mecklenburg-Vorpommern (21,3) und Bremen (24,1) mit Quoten von jeweils 20 und mehr Prozent. Von gleichwertigen Lebensbedingungen in ganz Deutschland kann angesichts dieser Zahlen nicht die Rede sein. Vielmehr zeigt sich Deutschland nicht nur sozial, sondern auch regional als ein zerrissenes Land.

Was die Soziodemografie der Armut anbelangt, sind die Ergebnisse des Mikrozensus seit Jahren nahezu unverändert. Sehr stark überproportional von Armut betroffen sind auch im Jahr 2014 wieder Alleinerziehende (41,9 Prozent), Familien mit drei und mehr Kindern (24,6), Erwerbslose (57,6), Menschen mit niedrigem Qualifikationsniveau (30,8) sowie Ausländer (32,5) oder Menschen mit Migrationshintergrund generell (26,7).[fn]Vgl. ebd., S. 24.[/fn] Erwerbslosigkeit ist für die überwiegende Zahl der Betroffenen und ihre Familien mit Armut verbunden. Das Gleiche gilt für fast die Hälfte der Alleinerziehenden, die ebenfalls besonders stark von Arbeitslosigkeit oder nicht hinreichendem Erwerbseinkommen betroffen sind.

Der politisch wohl gravierendste statistische Befund dürfte jedoch der sein, dass sich bei all den aufgezählten, besonders von Armut betroffenen Gruppen im 9-Jahresvergleich mit 2005 so gut wie nichts zum Positiven bewegt hat, trotz jährlich neuer Zahlen, trotz alljährlich neuer politischer Diskussionen und Bekenntnisse zum gegebenen Handlungsbedarf. Ganz im Gegenteil: Die Armutsquote bei Alleinerziehenden, Menschen mit geringer Qualifikation und Erwerbslosen ist gegenüber 2005 sogar noch deutlich stärker gestiegen als die Armut insgesamt. Mit der 2030-Agenda verpflichtet sich die Bundesregierung aber darauf, genau diese vulnerablen Gruppen besonders zu schützen und Maßnahmen zu erreichen, sie aus der Armut zu heben.

Eine Gruppe fällt im längerfristigen Vergleich schließlich auf, die in den letzten Jahren fast gar nicht im Fokus stand: Es sind die Rentnerinnen und Rentner. Erstmalig lag ihre Armutsquote 2014 mit 15,6 Prozent über dem Bundesdurchschnitt sie waren also leicht überproportional von Armut betroffen. Dies allein müsste noch kein Anlass für besondere Aufmerksamkeit sein. Es ist die sich dahinter verbergende beispiellose Dynamik, die alarmieren muss. Die Armutsquote der Rentner liegt heute um 46 Prozent höher als 2005. Sie ist damit fast zehnmal so stark gewachsen wie die Gesamtquote, die im gleichen Zeitraum einen Zuwachs von „lediglich“ 4,8 Prozent aufweist.

Diese Entwicklungen zeigen deutlich, dass Armut in Deutschland weniger um ein wirtschaftliches als ganz offensichtlich ein politisches Problem ist. Wirtschaftliches Wachstum führt nicht „automatisch“ zu einer armutsverhindernden Verteilung des Mehrerwirtschafteten. Wenn in einem Land das Bruttoinlandprodukt seit der letzten großen Krise jedes Jahr im Schnitt um zwei Prozent real wächst, wenn die Arbeitslosenquote deutlich sinkt und die Beschäftigung zunimmt, die Armut aber dennoch steigt oder auf sehr hohem Niveau verharrt, so ist das ein deutlicher Fingerzeig darauf, dass das bundesdeutsche Armutsproblem hausgemacht ist, ein Fingerzeig in Richtung eines seit Jahren sozial erodierenden Arbeitsmarktes in Folge der sogenannten Agenda-Politik mit dem Abbau arbeitsmarktpolitischer und sozialer Schutzrechte und ein Fingerzeig darauf, dass die Politik bei hoher Einkommens- und Vermögensungleichheit ihrer Aufgabe des Ressourcenausgleichs nicht nachkommt. Ganz im Gegenteil: Die Mittel für eine gezielte arbeitsmarktpolitische Unterstützung von langzeitarbeitslosen und schwer vermittelbaren Arbeitslosen werden bereits seit 2010 zum Zwecke der Haushaltskonsolidierung in Milliardenhöhe zurückgefahren. Das Ergebnis ist die Etablierung einer Zwei-Klassen-Arbeitsmarktpolitik: Gute Vermittlung für gut Vermittelbare und Leistungsabbau für die schlecht Vermittelbaren.[fn]Vgl. Hofmann (2016).[/fn]

Die Politik der derzeitigen Koalition aus CDU/CSU und SPD weiß armutspolitisch nicht zu überzeugen. Zwar brachte sie mit der Reform des Wohngeldes und der Erhöhung der BAföG-Leistungen Maßnahmen auf dem Weg, die geeignet sind, für einen kleinen Personenkreis Einkommensarmut abzuwenden, doch dürfte die Wirkung auf anderen Feldern eher gering sein. So sorgt der Mindestlohn zwar für eine gewisse Hygiene auf dem Arbeitsmarkt und ist als Einstieg politisch nicht unterzubewerten, doch hat er mit 8,50 Euro kaum einen armutspolitischen Effekt, da dieser Betrag die Arbeitnehmer weder aus dem Niedriglohnsektor noch in nennenswerter Zahl aus der Abhängigkeit von ergänzenden Grundsicherungsleistungen herausführt. Die Sonderprogramme, die für Langzeitarbeitslose aufgelegt wurden, sind so klein dimensioniert, dass sie rechnerisch gerade einmal rund 30.000 der eine Million Langzeitarbeitslosen erreichen. Das seitens der Betroffenen mit großen Erwartungen verknüpfte Teilhabegesetz für Menschen mit Behinderung entpuppte sich im Laufe der Erstellung mehr und mehr zu einem Kostendämpfungsgesetz, das künftige Belastungen der öffentlichen Haushalte begrenzen soll.

Rentenpolitisch verdienen die Verbesserungen bei den Erwerbsminderungsrenten Beachtung, doch konzentrierte sich die Koalition ansonsten vor allem auf die Mütterrente und auf die Rente mit 63. Letztere kamen ausschließlich ohnehin recht gut abgesicherten Arbeitnehmern mit vielen Versicherungsjahren, vornehmlich Männern, zu Gute kam. Wie dieses Land mit der künftig rasant steigenden Zahl armer Alter ohne hinreichende Rentenansprüche umgehen will, dazu wird keine schlüssige Antwort gegeben.

Um Armut tatsächlich wirksam zu bekämpfen, bräuchte es einen breiten öffentlichen Beschäftigungssektor für Langzeitarbeitslose, es bräuchte einer tatsächlichen Bildungsoffensive für Kinder aus armen Familien, die sich nicht in dem derzeitigen sogenannten Bildungs- und Teilhabepaket und damit im Kern mit seinen sieben Euro für Schulmaterialen und einem 10-Euro-Gutschein für den Besuch von Vereinen oder ähnlichem im Monat erschöpft. Es bräuchte darüber hinaus einen massiven Ausbau des sozialen Wohnungsbaus (Experten gehen von einem Bedarf von rund 80.000 Sozialwohnungen jährlich bis 2020 aus). Es bräuchte eine finanzielle Entlastung notleidender Kommunen, um in strukturschwachen Regionen wenigsten ein Minimum an sozialer, kultureller und Bildungsinfrastruktur sicherzustellen. Es bräuchte schließlich eine deutliche Erhöhung der Regelsätze in der Sozialhilfe sowie bei der Grundsicherung für alte Menschen, Erwerbsgeminderte und Arbeitssuchende, die wenigsten ein Minimum an Teilhabe sicherstellen.

Das heißt auch: Es sind zweistellige Milliardenbeträge, die in den Sozialkassen und den öffentlichen Haushalten zusätzlich aufzubringen wären, wollte man die Armut in Deutschland tatsächlich wirkungsvoll bekämpfen. Volkswirtschaftlich wäre das bei einem Bruttoinlandprodukt von über drei Billionen Euro auch durchaus zu realisieren. Die aktuelle Abgabenquote (Steuern und Sozialabgabenquote) liegt unter 40 Prozent, die Sozialquote (Anteil der Sozialausgaben am BIP) unter 30 Prozent. Auf der anderen Seite war der private Reichtum in Deutschland mit 5,3 Billionen allein als Geldvermögen bei den Privathaushalten noch nie so groß wie derzeit. Deutschland hätte alle Möglichkeiten, seine Armut zu bekämpfen. Doch die Regierungskoalition hat jegliche Erhöhung von Steuern und jegliche Form der Umverteilung bereits in ihren Koalitionsverhandlungen für ihre gemeinsame Regierungszeit ausgeschlossen. Die sogenannte „Schwarze Null“ wurde zum Programm erhoben, womit auch eine höhere Kreditaufnahme ausgeschlossen wurde. Solange diese Maxime der Regierungspolitik nicht aufgegeben wird, können realistischer weise keine großen Erwartungen an die Armutspolitik dieser Legislaturperiode gerichtet werden. Zukünftig muss sie ihren Verpflichtungen, die sie mit der 2030-Agenda eingegangen ist, nachkommen. Das schließt auch ein, politische Maßnahmen zu beschließen, insbesondere fiskalische, lohnpolitische und den sozialen Schutz betreffende, die dazu beitragen größere soziale Gleichheit im Land herzustellen (SDG 10.4).

Ulrich Schneider
Ulrich Schneider
Name

Ulrich Schneider

 ist Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.

Literature

Amtliche Sozialberichterstattung (2014): Mikrozensus. [www.amtliche-sozialberichterstattung.de/pdf/Mikrozensus.pdf].

Butterwegge, Christoph (2015): Armut – sozialpolitischer Kampfbegriff oder ideologisches Minenfeld? – Verdrängungsmechanismen, Beschönigungsversuche, Entsorgungstechniken. In: Schneider, Ulrich (Hg.): Kampf um die Armut – Von echten Nöten und neoliberalen Mythen. Frankfurt am Main.

Europäischen Gemeinschaft (1983): Schlussbericht der Kommission an den Rat über das erste Programm von Modellvorhaben und Modellstudien zur Bekämpfung der Armut. Brüssel.

Hauser, Richard (2006): Stand und Perspektiven der Armutsberichterstattung aus Sicht der Armutsforschung. Vortrag Im Rahmen der Tagung „20 Jahre bundesweite Armutsberichterstattung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes“ am 5. November 2006 [www.der-paritaetische.de/startseite/veranstaltungen/dokumentationen/20ja/audio-mitschnitte/].