Der Zustand der biologischen Vielfalt in Deutschland ist alarmierend. Von den einheimischen rund 3.000 Farn- und Blütenpflanzen sind nach der aktuellen Roten Liste 27 Prozent und von den 48.000 einheimischen Tierarten 36 Prozent in ihrem Bestand bedroht oder bereits ausgestorben. Arten stehen dabei auch immer für Lebensräume und Ökosysteme. Bei den einheimischen Lebensräumen gelten gar 72 Prozent als gefährdet. Deutschlands Gefährdungsraten gehören damit zu den höchsten Werten in ganz Europa. Es muss dringend gehandelt werden.
Das Ziel 15 der „Ziele Nachhaltiger Entwicklung“ (Sustainable Develepment Goals, SDGs) der Vereinten Nationen fordert unter anderem den Verlust der biologischen Vielfalt zu stoppen, den Schutz, die Wiederherstellung und nachhaltige Nutzung von Landökosystemen und die nachhaltige Nutzung der Wälder. Die derzeit erarbeitete Fortschreibung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie soll der Umsetzung der SDGs für Deutschland dienen.
Wichtige Grundlage für die Erreichung von SDG 15 ist das Übereinkommen über die biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity, CBD), die bereits 1992 in Rio verabschiedet wurde. Jede Vertragspartei ist demnach verpflichtet, „nationale Strategien, Pläne oder Programme zur Erhaltung und nachhaltigen Nutzung der biologischen Vielfalt [zu]entwickeln oder zu diesem Zweck ihre bestehenden Strategien, Pläne und Programme an[zu]passen“. Die Bundesregierung hat erst 2007 eine Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt[fn]Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (2007).[/fn] (NBS) verabschiedet. Sie enthält rund 330 konkrete und oft quantifizierte Ziele mit genauen Zieljahren und rund 430 Maßnahmen, die die verschiedenen staatlichen und nichtstaatlichen Akteure zum Handeln auffordern. Sie berücksichtigt auch den Beitrag Deutschlands zur Erhaltung der biologischen Vielfalt weltweit.
Die Ziele zum Schutz der biologischen Vielfalt wurden weit verfehlt
Würden alle Ziele dieser Strategie erreicht, würde der Verlust der biologischen Vielfalt in Deutschland gestoppt sein. Doch danach sieht es leider nicht aus. Der Indikatorenbericht 2014 zur Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt der Bundesregierung,[fn]Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) (2014).[/fn] der Artenschutzschutzreport 2015[fn]Bundesamt für Naturschutz (2015).[/fn] des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) sowie der Bericht zur Lage der Natur 2014[fn]Bundesamt für Naturschutz (2014).[/fn] von BfN und Bundesumweltministerium zeigen auf erschreckende Weise, dass viele der in der NBS bis zum Jahr 2020 gesetzten Ziele ohne zusätzliche Anstrengungen nicht mehr erreicht werden können.
Die gesamte Regierung ist gefordert
Für die jeweiligen Politikfelder und Arbeitsbereiche bedarf es daher klar definierter, operationalisierter Ziele und Maßnahmen. Das Bundesumweltministerium hat die Dringlichkeit zusätzlicher Anstrengungen selbst erkannt und deshalb im Oktober 2015 die „Naturschutz-Offensive 2020“[fn]BMUB (2015).[/fn] gestartet. Die neue Initiative macht deutlich, in welchen Handlungsfeldern die größten Defizite bestehen und wo bis zum Jahr 2020 verstärkte Anstrengungen zur Erhaltung der biologischen Vielfalt von welchen Akteuren gefordert sind. Es werden insgesamt 40 vordringliche Maßnahmen zehn prioritären Handlungsfeldern zugeordnet.
Jetzt kommt es darauf an, zügig und konsequent zu handeln. Die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt wurde seinerzeit von der gesamten Bundesregierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel verabschiedet und müsste demnach auch in allen Ressorts und ihren nachgeordneten Behörden Berücksichtigung erfahren und Maßstab ihres Handelns sein.
Doch hier ist nicht viel passiert: Das Bundesumweltministerium ist für viele relevante Gesetze und Verordnungen gar nicht zuständig. Die Bundesregierung muss deshalb endlich den Schutz der Biodiversität zu einer Querschnittaufgabe für alle Ressorts machen. Die Führungs- und Leitungsebenen in Politik und Verwaltung sind gefordert, das im Grundgesetz in Artikel 20a niedergelegte Leit- und Handlungsprinzip zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereich zu integrieren und aktiv umzusetzen. Die Beseitigung der Zielkonflikte zwischen Energie- und Wirtschaftspolitik, der Flächennutzungs- und der Biodiversitätspolitik muss eine hohe Priorität genießen und darf nicht zulasten der natürlichen Ressourcen betrieben werden. Eine stärkere Nutzung der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzleramtes ist hier notwendig. Zudem stehen bisher etliche Politikfelder gar nicht im Fokus von Politik und Verwaltung, obwohl sie indirekte Treiber des Biodiversitätsverlustes sind. Insbesondere müssen z. B. Handels-, Sozial- oder Fiskalpolitik stärker in eine umfassende Biodiversitätspolitik eingebunden werden. Die Regierung muss Gesetze und andere staatliche Vorhaben auf ihre Verträglichkeit mit den Zielen der Nationalen Biodiversitätsstrategie und ihre Auswirkungen auf die biologische Vielfalt prüfen.
Naturschutz in Deutschland ist Ländersache
In den meisten Bundesländern gibt es immer noch keine umfassende und ressortübergreifende Umsetzung der NBS. Zwar existierten inzwischen in vielen Ländern Landesstrategien zum Erhalt der Biodiversität. Inhalte und Zeitvorgaben des Bundes werden in den Konzepten der Länder jedoch nur selten aufgegriffen und konkretisiert. Nach einer vergleichenden Untersuchung von BUND und NABU aus dem Jahr 2014 („Naturschutzampel“) wurde in keinem der untersuchten 13 Bundesländer die biologische Vielfalt so geschützt, dass der Verlust der Artenvielfalt bis 2020 gestoppt werden könnte. Hier sind die Länder dringend zum Handeln aufgerufen.
Besonders bedroht: Tiere und Pflanzen in der Agrarlandschaft
Mit einem Flächenanteil von über 50 Prozent ist die Landwirtschaft bundesweit der größte Flächennutzer. Schon aus diesem Grund hat sie großen Einfluss auf die Artenvielfalt. Zahlreiche Arten sind auf landwirtschaftlich geprägte Lebensräume in Deutschland angewiesen. Von den etwa 3.000 Farn- und Blütenpflanzen Deutschlands hat gut ein Drittel ihren Verbreitungsschwerpunkt im Grünland. Auf Ackerstandorten kommen rund 270 typische Acker-Wildkräuter vor. Davon sind 32 Prozent gefährdet. Dies trifft auch auf die Fauna zu: Die Bestände von 26 der 30 häufigsten Vogelarten der Feldflur sind zum Teil dramatisch zurückgegangen. So verringerte sich der Bestand des Rebhuhns von 1980 bis heute um 94 Prozent und der Bestand des Kiebitz um 75 Prozent seit 1990.
Die Ursachen für die teils dramatische Verschlechterung liegen in der fortschreitenden Industrialisierung der Landwirtschaft: intensiv genutzte Grünland- und Ackerbauregionen, enge Fruchtfolgen, große Schläge, die Entmischung und Homogenisierung von Nutzungsstrukturen sowie Meliorationsmaßnahmen wie die Entwässerung von Feuchtgrünland wirken sich negativ auf die Artenvielfalt sowie auf den Naturhaushalt und das Landschaftsbild aus.
Effektiver Artenschutz profitiert am besten vom Schutz der betreffenden Lebensräume und einer in der Fläche nachhaltigen und naturverträglichen Nutzung. Die Bindung der Auszahlung von Flächenprämien der EU an Umweltanforderungen („Greening“ und „Cross Compliance“) sind leider nach wie vor wenig anspruchsvoll. Nach 2020 muss die erste Säule der europäischen Agrarsubventionen abgeschafft werden. Die hier frei werdenden Mittel sollten dafür eingesetzt werden, konkrete Leistungen im Naturschutz zu bezahlen.
Gefährdete Lebensadern: Flüsse und Auen
Fließgewässer und ihre Auen sind von Natur aus besonders artenreich. Sie können für Mitteleuropa als „Hotspots“ der Artenvielfalt gelten. Der Zustand der meisten Fließgewässer und Auen ist aber besorgniserregend. Zwei Drittel der ehemaligen Überschwemmungsflächen an den Flüssen in Deutschland sind verloren gegangen. Von den noch überfluteten Auen befinden sich nur noch zehn Prozent in einem einigermaßen naturnahen Zustand. Entgegen allen politischen Willensbekundungen, den Flüssen wieder mehr Raum zu geben (5-Punkte-Programm der Bundesregierung zur Verbesserung des vorbeugenden Hochwasserschutzes 2002, NBS) hat sich die durchströmte Auenfläche in den letzten 20 Jahren nur um ca. ein Prozent vergrößert. Die EU-Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) fordert u. a., dass der „gute Zustand“ der Oberflächengewässer bis zum Jahr 2015, spätestens aber bis 2027 erreicht wird. Zwar sind in den letzten Jahrzehnten deutliche Verbesserungen bei der Wasserqualität erzielt worden, doch für die Gewässerbiologie, die bei der Bewertung nach der WRRL im Vordergrund steht, gilt dies nicht.
Nach dem letzten großen Hochwasser wurde ein „nationales Hochwasserschutzprogramm (NHWSP)“ aufgelegt. Der Bund stellt in den nächsten Jahren mit dem Sonderrahmenplan „Präventiver Hochwasserschutz“ mehr als 300 Millionen Euro für den präventiven Hochwasserschutz zur Verfügung. Hier liegt der Förderschwerpunkt bislang nicht auf dem Naturschutz, sondern lediglich auf der Schaffung von zusätzlichen Retentionsräumen. Hier müssen dringend Synergieeffekte für eine Verbesserung der biologischen Vielfalt erkannt und genutzt werden.
Mehr Wildnis und Urwälder von morgen
Der Wald in Deutschland bedeckt eine Fläche von 11,1 Millionen Hektar, was in etwa einem Drittel der Landfläche entspricht. Es fehlen insbesondere die Alters- und Zerfallsphasen der Wälder, stehendes und liegendes Totholz mit unterschiedlicher Dicke als Lebensraum für viele tausend Pilz- und Insektenarten, die auf diese Lebensräume angewiesen sind. Die aus ökologischer Sicht wertvollen Bestände mit Bäumen, die älter als 180 Jahre sind machen nur zwei Prozent der Waldfläche aus. Der Anteil von Flächen mit natürlicher Waldentwicklung, also „Urwald von morgen“ beträgt zurzeit lediglich 1,9 Prozent. Die NBS sieht hingegen ein Ziel von fünf Prozent Flächen mit natürlicher Entwicklung bis 2020 vor. Damit dieses Ziel noch erreicht werden kann, müssen Bund, Länder und Kommunen als gutes Vorbild zehn Prozent ihrer Wälder aus der Nutzung nehmen. Hier befinden sich viele Bundesländer derzeit in einem mehr oder minder ambitionierten Umsetzungsprozess, der dringend forciert werden muss.
Wildnisgebiete bieten durch ihre großflächige Ausdehnung ungestörte Habitate für Arten mit großen Raumansprüchen (wie z. B. Luchs, Elch und Steinbock) sowie ein Nebeneinander verschiedener Entwicklungsstadien, das für den Fortbestand vieler Arten (wie z. B. zahlreicher spezialisierter Käferarten) nötig ist. Gerade 0,6 Prozent der Fläche unseres Landes kann man aktuell als großflächige Wildnis- oder Wildnisentwicklungsgebiete bezeichnen. Damit das Ziel der NBS, bis 2020 zwei Prozent Wildnisflächen zu schaffen, erreicht werden kann, müssen Bund und Länder gemeinsam stärker daran arbeiten.
Schutzgebiete, Natura 2000 und Biotopverbund
Ein erfolgreiches Schutzgebietsmanagement ist auf eine konstante sowie ausreichend finanzielle wie personelle Ausstattung angewiesen. Hier klafft vielerorts noch eine Finanzierungslücke – vor allem in Bezug auf den angestrebten Ausbau des Schutzgebietsnetzes sowie die Sicherung des Natura 2000-Gebietsverbundes. Die bisherige Finanzierung von Schutzgebieten durch Haushaltsmittel der Länder, Stiftungen, Verbände oder EU-Förderung stößt an organisatorische wie rechtliche Grenzen. Die notwendige qualitative Weiterentwicklung der bestehenden Schutzgebiete und die Fortentwicklung des Schutzgebietsnetzwerks auf der Basis der Natura 2000-Gebiete sind dringend nötig, um die Zielerreichung der NBS nicht weiter zu gefährden.
Die Schaffung eines Verbundes an Biotopen ist eine der zentralen Aufgaben des Naturschutzes. Im Bundesnaturschutzgesetz ist festgelegt, dass auf mindestens zehn Prozent der Landfläche Deutschlands ein funktionierender Verbund an Lebensräumen wiederhergestellt werden soll. Leider steht im Gesetz bisher nicht, bis wann dies geschehen sein soll und deshalb ist bisher auch noch nicht viel passiert. Diese Lücke im Gesetz muss dringend geschlossen werden.
Finanzierung von Naturschutz stärken
Die Finanzierung von Maßnahmen des Naturschutzes erfolgte bisher im Wesentlichen über das EU-Life-Programm und aus dem europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raumes. Dies ist jedoch bei Weitem nicht ausreichend, bzw. nicht zielführend. Wir brauchen ein neues europäisches Finanzierungsinstrument, das es ermöglicht, dass der günstige Erhaltungszustand für Natura-2000-Gebiete erreicht werden kann.
Auf bundesdeutscher Ebene müssen das „Bundesprogramm biologische Vielfalt“ mindestens verdoppelt und andere Förderinstrumente wie „Chance.Natur“ aufgestockt werden. Nur wenn die notwendigen Mittel bereitgestellt werden, kann es gelingen, den Verlust der biologischen Vielfalt in Deutschland zu stoppen und eine Trendwende einzuleiten.
Zusammenfassend ist festzuhalten: Auch fast ein Vierteljahrhundert nach Verabschiedung der CBD in Rio ist die Bundesrepublik weit davon entfernt, den Verlust der biologischen Vielfalt in Deutschland aufgehalten zu haben. Sollen die Ziele bis zum Jahr 2020 noch erreicht werden, muss die gesamte Bunderegierung dringend handeln. Gute Ziele und Strategien sind nur etwas wert, wenn sie auch konsequent umgesetzt werden.
Albert Wotke
ist Referent für Naturschutz in Deutschland beim WWF.
Bundesamt für Naturschutz (2015): Artenschutz-Report 2015 – Tiere und Pflanzen in Deutschland. Bonn [www.bfn.de/fileadmin/BfN/presse/2015/Dokumente/Artenschutzreport_Download.pdf].
Bundesamt für Naturschutz (2014): Die Lage der Natur in Deutschland – Ergebnisse von EU-Vogelschutz- und FFH-Bericht. Bonn [www.bfn.de/fileadmin/MDB/documents/presse/2014/Die_Lage_der_Natur_in_Deutschland_neu.pdf].
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (2007): Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt. Berlin [www.bfn.de/fileadmin/MDB/documents/themen/landwirtschaft/nationale_strategie.pdf].
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (2015): Naturschutz-Offensive 2020 – Für biologische Vielfalt! Berlin [www.bmub.bund.de/fileadmin/Daten_BMU/Pools/Broschueren/naturschutz-offensive_2020_broschuere_bf.pdf].
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (2014): Indikatorenbericht 2014 zur Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt. Berlin [www.bmub.bund.de/fileadmin/Daten_BMU/Pools/Broschueren/indikatorenbericht_biologische_vielfalt_2014…].