II.17. Transparenz, Partizipation und Kohärenz in der internationalen Meerespolitik

Transparenz, Partizipation und Kohärenz als Schlüsselaspekte einer internationalen Meerespolitik
Watt zwischen Langlütjen II und dem Containerterminal Bremerhaven
Watt zwischen Langlütjen II und dem Containerterminal Bremerhaven
Leineabstiegsschleuse / Wikimedia Commons (CC0 1.0)

Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in den Küstenregionen entlang der Ozeane und Meere. Dreiviertel der städtischen Metropolen liegen in dieser Zone. Insbesondere die Kleinen Inselentwicklungsländer (Small Island Development States, SIDS) sind anfällig für negative Veränderungen der Meeresumwelt. Ein sich beschleunigender Meeresspiegelanstieg, der Zusammenbruch der Fischbestände sowie der Verlust von Tourismusgebieten gefährden zahlreiche Existenzen und Küstenkommunen. Trotzdem wurde die Meerespolitik lange Zeit weitgehend vernachlässigt und dementsprechend deren Bedeutung für das planetare Ökosystem, die soziale Dynamik in den Küstengebieten als auch für die ökonomische Entwicklung vieler Volkswirtschaften unterschätzt.

Die Formulierung eines eigenständigen SDG 14 „Ozeane, Meere und Meeresressourcen im Sinne nachhaltiger Entwicklung erhalten und nachhaltig nutzen“ zeigt, dass in der internationalen Politik eine allmähliche Veränderung eingesetzt hat. In den letzten Jahren ist die Bedeutung der Meerespolitik kontinuierlich gewachsen. Dennoch erfordert es immer wieder neue Anstrengungen, die maritimen Aspekte von Umwelt und Entwicklung dauerhaft zu etablieren.

 

Nahrungsgewinnung, Energieerzeugung, Transport – Alles auf dem Meer

Die Integration der Fischereipolitik in Strategien zur Bekämpfung von Hunger und Armut ist so bis heute keineswegs selbstverständlich, obwohl mehr als zwei Milliarden Menschen in bedeutendem Umfang auf die Versorgung mit tierischen Proteinen aus den Meeren und Ozeanen angewiesen sind. Hinzu kommt, dass Fischerei- und Aquakulturwirtschaft mehr als 55 Millionen Menschen Arbeit geben und dadurch letztlich in etwa zehn Prozent der Weltbevölkerung direkt und indirekt von diesem Sektor ökonomisch abhängig sind. Neben der Fischereiwirtschaft tragen die Schifffahrt und die Hafen-Logistik, der Offshore-Sektor mit Energie- und Ressourcengewinnung, die marinen Technologien und nicht zuletzt der Tourismus an den unzähligen Stränden teilweise erheblich zum Wohlstand vieler Länder bei, auch oder gerade im globalen Süden. So sind Fisch und Meeresfrüchte nach Erdöl das zweitwichtigste Exportgut von Entwicklungsländern und bedeutender für sie als klassische Güter wie Kaffee, Bananen oder Tee zusammengenommen.

Insgesamt werden über 90 Prozent aller Güter des internationalen Handels per Schiff transportiert. Mehr als die Hälfte aller Seeleute, die dies ermöglichen, stammt von den Philippinen und überweist Jahr für Jahr große Teile ihrer Heuer in das Heimatland. Auch die Erdölförderung selbst findet mehr und mehr auf See statt. Über ein Viertel davon wird bereits offshore produziert. So gründet sich beispielsweise der wirtschaftliche Aufschwung der letzten Jahre von Ländern wie Brasilien oder Angola zu nicht unerheblichen Teilen auf die Offshore-Ölindustrie.

 

Ökosystem Ozeane – Schutz nicht ausreichend

Auf der anderen Seite prägen die Ozeane mit ihrem Anteil von gut 70 Prozent an der Oberfläche des Planeten die gesamte Biosphäre und sind elementar für die planetaren ökologischen Systeme und Kreisläufe. So sind das Klimasystem, der Kohlenstoff- und Wasserkreislauf ohne die Weltmeere nicht denkbar. Die Wechselbeziehungen zwischen marinen und terrestrischen Systemen sind kennzeichnend für das Leben auf unserem Planeten. Die Erforschung der marinen Ökoregionen mit ihren vielfältigen Ökosystemen und ihrer spezifischen Biologie und Biochemie, die sich mit den unterschiedlichen Zonierungen je nach Tiefe und klimatischen Bedingungen ändern, steht noch am Anfang. Noch ist die Meereswissenschaft weit davon entfernt in Umweltverträglichkeitsprüfungen belastbare Aussagen zu treffen oder eine vorsorgende Politik auf Basis umfassender Ökosystemanalysen zu gewährleisten. Trotz alledem wurden nicht einmal vier Prozent der Meeresfläche unter Schutz gestellt, anstatt mit einer deutlich höheren Anzahl von Meeresschutzgebieten dem Vorsorgeprinzip Rechnung zu tragen.

 

Meerespolitik der EU und Deutschlands zwischen Blue Growth und Industrialisierung

Dies ist die Sachlage zu einer Zeit, in der die Industrialisierung der Küstenzonen weltweit weiter voranschreitet. Die Dynamik gründet sich auf den politisch-ökonomischen und ökologischen Krisen an Land. Im Kontext wachsender Konkurrenzen um Naturressourcen entstehen ständig neue maritime Projekte und Strategien. In der politischen Arena gehören die EU und Deutschland in verschiedener Hinsicht zu den Vorreitern. Aber auch andere Staaten wie die USA und China sind aktiv, ebenso wie die UN und Teile der Zivilgesellschaft, internationale Institutionen und Unternehmen.

Innerhalb der EU wurden unter anderem das „Integrierte Küstenzonenmanagement“ (IKZM), das „Blaue Buch“ mit der allgemeinen Meeresstrategie, die „Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie“ (MSRL) zum Meeresschutz und das Blue-Growth-Programm beschlossen. Die deutsche Meerespolitik wird wesentlich in diesem europäischen Kontext fortentwickelt. Das trifft insbesondere auf die Fischerei und den Meeresschutz zu, ebenso aber auch auf die maritime Raum-, die Forschungs- und die generelle Rahmenplanung. Ein Schlüsselaspekt dabei ist derzeit die Blue-Growth-Strategie, welche zusätzliches Wirtschaftswachstum in Europa erzeugen soll und in erster Linie ein Konzept zur wirtschaftlichen Erschließung der Meere ist. Sie setzt auf Aquakultur, Tourismus am Meer, Offshore-Energiegewinnung, Blaue Biotechnologie und Meeresbergbau. Blue-Growth konzentriert sich damit gänzlich auf die Industrialisierung der Meere und fördert, wie eine Vielzahl staatlicher Programme in Deutschland, die Vorhaben und Investitionen von Unternehmen der maritimen Wirtschaft. Es erscheint wahrscheinlich, dass sich hiermit altbekannte Fehler beim Zugriff auf Natur wiederholen und Umweltzerstörungen im großen Stil die Folge sein werden.

 

Wettlauf um die Meeresschätze

Gerechtfertigt wird diese neue Grenzüberschreitung auf See mit dem Bedarf an zusätzlichen Ressourcen für eine wachsende Weltbevölkerung, einer Verknappung der Rohstoffe an Land und der legitimen nachholenden Entwicklung des globalen Südens. Es wird suggeriert, dass die Rohstoffe der Meere gleich verteilt werden und allen Menschen zugutekommen sollen. Tatsächlich konkurrieren nicht nur die Staaten um die Meeresschätze. Mittlerweile treffen in jeder Küstenregion widerstreitende Interessen aufeinander und überall entbrennen Konflikte um die Nutzung des Meeresraumes. Oftmals entspannen sich diese Konflikte zwischen traditionellen Nutzungen und Interessensgruppen, die neue Nutzungen etablieren wollen. Industrielle Fischereiflotten nehmen den Kleinfischern und -fischerinnen die Fangrechte. Tourismuskonzerne verwehren ihnen den Zugang zum Meer und Offshore-Projekte schränken ihre Fanggebiete ein, man spricht schon von einem Ocean Grabbing.

 

Umwelt und Entwicklung auf See als politischer Prozess

Mit wissenschaftlichen Studien, die die Wissenslücken in der marinen Ökologie füllen, rücken weder Konfliktlösungen in greifbare Nähe, noch lässt sich so der maritime Industrialisierungsprozess regulieren. Die auffällig enge, programmatische Verknüpfung von Blue Growth mit Bekenntnissen zur Notwendigkeit von Meeresschutz und -forschung in den entsprechenden Konzepten lenkt den öffentlichen Diskurs in eine falsche Richtung. Nicht nur weil Meereswissenschaft den ständig aufs Neue geschaffenen Fakten nicht nachkommt, sondern vor allem weil diese keinen politischen Meinungsbildungsprozess ersetzen kann. Die Kultivierung der Meere stellt die Frage danach in den Raum, welche Art von Meer letztlich gewollt ist.

 

Intransparenz und mangelnde Partizipation bei der Gestaltung der Meerespolitik

Durchaus positiv zu bewerten sind in diesem Sinne die Initiativen der Bundesregierung, die Meerespolitik auf die Tagesordnung der G7 zu setzen, wie dies in Elmau 2015 geschehen ist, und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), einen 10-Punkte-Aktionsplan „Meeresschutz und nachhaltige Fischerei“ aufzulegen. Im Kern mangelt es der deutschen Meerespolitik allerdings an Transparenz, Partizipation und Kohärenz. Der politische Diskussionsprozess zur Zukunft der Ozeane und Meere wird in der Öffentlichkeit seitens der Bundesregierung nicht konsequent geführt, obwohl im „Entwicklungsplan Meer“, der nationalen Umsetzung der europäischen Meeresstrategie, als eine der zentralen Aufgaben „Die Menschen für die Meere und deren Bedeutung für Klima, Umwelt und Wohlstand sensibilisieren“ genannt ist. Zwar werden einzelne Projekte zur Meinungsbildung gefördert, laden Ministerien zu Veranstaltungen ein und wird die Thematik im Bundestag debattiert, doch bleiben die meisten Vorgänge und vor allem ihre weitreichende Bedeutung der Öffentlichkeit verschlossen. Dies ist nicht nur Ausdruck unzureichender demokratischer Partizipationsmechanismen, es spiegelt zugleich eine insgesamt ungenügende Transparenz des Reformprozesses in der Meerespolitik wider, wozu die augenscheinliche Inkohärenz der Regierungspolitik wesentlich beiträgt. In Deutschland teilen mindestens acht Ministerien die maritime Politik unter sich in verschiedene, konkurrierende Einflusssphären auf. Oft ist es die Zivilgesellschaft, die versucht, die Prozesse kohärent zu gestalten und die Informationslücken zu schließen.

 

Wirrwarr der Verantwortlichkeiten in der Bundesregierung

Die Abstimmung der Ressorts zur Meerespolitik ist in der Regel mangelhaft und oft von widerstreitenden Interessen gekennzeichnet. So ist der von der Bundesregierung geschaffene Posten eines Koordinators im Range eines Staatssekretärs im Wirtschaftsministerium angesiedelt und lediglich zuständig für die maritime Wirtschaft. Die Umsetzung der MSRL der EU durch das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) findet unabhängig von der durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) vertretenen Fischereipolitik und von der vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) gelenkten Schifffahrtspolitik statt. Auch auf nationaler Ebene steht das BMEL dem BMUB bei der Einführung von Verordnungen zum Management der nationalen Meeresschutzgebiete im Weg und vertritt bezüglich der Fischereipolitik eigene Ziele. Erst eine gemeinsame Klage mehrerer Naturschutzorganisationen konnte die überfällige Formulierung der Schutzverordnungen vorantreiben. In Bezug auf den Tiefseebergbau, Offshore-Wind und andere Teilbereiche verhält es sich in der Regel ähnlich. Diverse Inkohärenzen gehen einher mit einer eklatanten Differenz zwischen den Initiativen und Verlautbarungen der Bundesregierung zur internationalen Meerespolitik und der nationalen Praxis. Nicht nur die jahrelang fehlenden Managementpläne für die ausgewiesenen Meeresschutzgebiete, auch die mangelnde Regulierung und Kontrolle der Nebenerwerbs- und Freizeitfischerei, der Importe von Fisch und Meeresfrüchten auf eine eventuelle illegale Herkunft, des Plastikmülls und anderer Schadstoffe dort, wo sie eingeleitet werden, des übermäßigen Eintrags von Nährstoffen durch Landwirtschaft und Verkehr, des Sozialabbaus in der Schifffahrt sowie eine ganze Reihe weiterer Aspekte machen dies deutlich.

 

Globale SDG-Indikatoren gehen nicht weit genug

Generell bieten die internationale wie auch die nationale Diskussion um SDG 14 die Chance, dass die Meerespolitik in ihrer Breite und Bedeutung für Umwelt und Entwicklung Beachtung findet. Die aktuell vorgeschlagenen globalen Indikatoren für die SDGs bergen jedoch die Gefahr, in sich das Potential des SDGs 14 an entscheidenden Stellen zu beschränken. Das Potential einer ökonomischen Entwicklung, die sich auf die Ozeane und Meere konzentriert, lässt sich, wie bisher im Indikator für Zielvorgabe 14.7 vorgesehen, nicht allein an der Fischerei festmachen. Ebenso ist der globale Indikator für Zielvorgabe 14.a, der den Anteil der Budgets für Meeresforschung an den nationalen Forschungsetats bemisst, ungeeignet, die entwicklungspolitische Dimension der Zielvorgabe zu bewerten. Die Indikatoren für Zielvorgaben 14.a und 14.c, der die Fortschritte bei der Implementierung des internationalen Seerechts verfolgt, sind zu wenig spezifisch. Im Rahmen von Zielvorgabe 14.c wäre es sinnvoll, konkrete Gesetzesinitiativen als Maßstab zur Überprüfung auszuwählen, anstatt allgemein auf nicht näher definierte Fortschritte in beliebigen Verfahren abzuheben.

 

Widerspieglung des SDG 14 durch Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie?

Aktuell ist offen, inwiefern sich der Erfolg der Schaffung eines eigenständigen Meeres-SDGs auf die deutsche Meerespolitik auswirken wird. Die Bundesregierung hat zu diesem Erfolg beigetragen und auch die Integration der SDGs in eine Neuauflage der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie (jetzt Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie) erscheint zunächst stringent. Die bisherige Beschränkung in deren Entwurf auf lediglich zwei Indikatoren führen tatsächlich aber ein wesentliches Element der 2030-Agenda ad absurdum: Mit den in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie verankerten Indikatoren lassen sich die Bemühungen der deutschen Meerespolitik nur punktuell mit der Praxis anderer Staaten auf Grundlage der SDGs vergleichen.

Der darin ausgewählte Indikator „Nährstoffeinträge in Küstengewässer und Meeresgewässer“ bezieht sich auf einen Teilaspekt von Zielvorgabe 14.1 und der zweite ausgewählte Indikator „Anteil der nachhaltig befischten Fischbestände an der Gesamtzahl der Fischbestände in Nord- und Ostsee“ ist sinnvoll auf Zielvorgabe 14.4 anzuwenden. Beide Indikatoren können zudem ergänzend genutzt werden zur Dokumentation der Erfüllung von Zielvorgabe 14.2. Die anderen Zielvorgaben und ihre globalen Indikatoren werden durch die Indikatoren der überarbeiteten Nachhaltigkeitsstrategie nicht erfasst.

Die in den Entwürfen der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie und des Berichts der Bundesregierung zum HLPF 2016 genannten nationalen und internationalen Aktivitäten in der Meerespolitik, die den SDG-Prozess begleiten sollen, beinhalten allerdings keine Indikatoren, die einbezogen werden könnten. Die Novellierung der Düngeverordnung, die Unterschutzstellung von acht Schutzgebieten, die Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes, die Umsetzung der EU-Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie sowie das Integrierte Küstenzonenmanagement auf nationaler und die Bekämpfung der Meeresvermüllung, die „Partnership on Regional Ocean Governance“ (PROG), die Aushandlung eines Durchführungsabkommens zum Seerechtsübereinkommen, die Einrichtung von Schutzgebieten in Arktis und Antarktis als auch die Umsetzung der Gemeinsamen Fischereipolitik der EU auf internationaler Ebene, all das sind wichtige meerespolitische Aufgaben und haben Relevanz für eine Reihe von Zielvorgaben. Sie bleiben aber in den Entwürfen ohne definierte Indikatoren und entsprechende Zuordnungen freischwebend. Den Aktivitäten müssen unbedingt Indikatoren zugeordnet werden, die international vergleichbar sind.

Denn die weltweite Vergleichbarkeit der Fortschritte bei der Zielerreichung und die Gültigkeit der Ziele für alle beteiligten Länder im globalen Norden und Süden ist die Besonderheit der SDGs und im Rückblick auf die Millenniumentwicklungsziele (MDGs) eine sinnvolle Erweiterung. Die Etablierung eigenständiger nationaler, nur partiell vergleichbarer Indikatoren steht im Widerspruch zum internationalen Engagement Deutschlands in der Meerespolitik und stellt eine weitere politische Inkohärenz dar. Genau genommen wird damit die ganze Idee der 2030-Agenda in Frage gestellt. Die Bundesregierung hat sicherzustellen, dass die internationale Vergleichbarkeit gewährleistet ist und die alle notwendigen Daten in Deutschland erhoben und öffentlich diskutiert werden.

Kai Kaschinski
Kai Kaschinski
Name

Kai Kaschinski

ist Projektleiter bei Fair Oceans und koordiniert die AG Meere im Forum Umwelt und Entwicklung.