Obwohl völkerrechtliche Vereinbarungen wie die UN-Kinderrechtskonvention (KRK), die EU-Grundrechtecharta und die EU-Aufnahmerichtlinie vorgeben, dass bei allen Maßnahmen, die das Kind betreffen, dessen Wohl vorrangig zu berücksichtigen sei, befolgen die nationale Rechtsordnung sowie die praktische Umsetzung durch Behörden, Verwaltung und Gerichte in Deutschland in einigen Punkten nicht die Vorgaben. Im Gegenteil haben sich der Schutz und die Rechte von minderjährigen Flüchtlingen mit den Gesetzesänderungen im Herbst 2015 und Februar 2016 in einigen Punkten weiter verschlechtert.
Im Asylverfahren und bei aufenthaltsrechtlichen Fragen werden begleitete Kinder selten als eigenständige Rechtssubjekte gesehen, sondern als Anhang der Eltern. Individuelle kindspezifische Fluchtgründe – wie Zwangsrekrutierung von Jungen, Kinderheirat oder weibliche Genitalverstümmelung – werden selten berücksichtigt.
Mit der Verschärfung des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG, Paragraf 60a) Ende Februar 2016 ist es nun einfacher, kranke Kinder – einschließlich Kinder mit psychischen oder emotionalen Störungen – die mit einem Erziehungsberechtigten nach Deutschland geflohen sind, abzuschieben. Posttraumatische Belastungsstörungen werden nicht als schwerwiegende Krankheit und damit nicht als Abschiebehindernis anerkannt.
Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG, Paragrafen 4 und 6) ist für die Gesundheitsversorgung lediglich die Behandlung von „akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen“ abgedeckt ist. Es besteht somit kein Anspruch auf zum Beispiel die Behandlung von chronischen Krankheiten, Psychotherapien oder Dolmetscherleistungen. Bei einer restriktiven Auslegung des AsylbLG sind Kinder mit Behinderungen besonders benachteiligt. Entweder erhalten sie keinen oder nur einen stark verzögerten Zugang zu notwendigen Hilfen wie Rollstühlen oder Prothesen. Die eingeschränkte Gesundheitsversorgung und fehlenden Strukturen für Psychotherapien auf der einen, sowie der erhöhte Bedarf an Gesundheitsversorgung nach der Flucht- und Gewalterfahrung auf der anderen Seite lassen große Lücken in der Gesundheitsversorgung erahnen. Der UN-Kinderrechtsausschuss hat Deutschland 2014 wegen des unzureichenden Zugangs asylsuchender Kinder zu Gesundheitsdienstleistungen gerügt, ebenso der UN-Behindertenrechtsausschuss. Auch der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sieht den diskriminierungsfreien Zugang zur Gesundheitsversorgung als eine unmittelbar umzusetzende Kernverpflichtung aus dem UN-Sozialpakt.
Für unbegleitete Minderjährige mit einem gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland kommt der sogenannte Elternnachzug in Betracht gemäß Paragraf 36 Aufenthaltsgesetz. Mit dem Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren wird der Familiennachzug zu subsidiär schutzberechtigten Flüchtlingen für zwei Jahre ausgesetzt werden. Davon sind auch unbegleitete Minderjährige betroffen. Die tatsächliche Aussetzung des Elternnachzugs würde den Aspekt der Migrationskontrolle klar in den Vordergrund stellen und Aspekte des Kindeswohls und dessen Realisierung unberücksichtigt lassen.
Die Inhaftierung von unbegleiteten Minderjährigen zum Zwecke der Abschiebung ist in Deutschland gesetzlich möglich. Aktuell liegen zwar keine Fälle von Inhaftierungen Minderjähriger zur Abschiebung vor, jedoch sollte das Gesetz im Sinne des Kindeswohls gestrichen werden.
Es gibt keine bundesweit einheitlichen Unterbringungsstandards, die die Bedürfnisse und den Schutz von Kindern berücksichtigen. Gesetzlich wurde die Verweildauer in einer Erstaufnahmeeinrichtung von drei auf sechs Monate angehoben. Somit bleiben Flüchtlingskinder länger von integrativen Strukturen ausgeschlossen und verweilen in Einrichtungen mit unzureichenden Betreuungs- und Spielmöglichkeiten. Gemeinschaftsunterkünften sollte erst dann eine Betriebserlaubnis ausgestellt werden, wenn sie Kindeswohlkriterien berücksichtigt.
Alle Kinder haben ab dem ersten vollendeten Lebensjahr einen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Kindertagesstätte, so auch Flüchtlingskinder, sobald sie die Erstaufnahmeeinrichtung verlassen haben. Nach Verlassen einer Erstaufnahmeeinrichtung fehlen oft die benötigten Kita-Plätze. So besuchten beispielsweise nur 15 Prozent der Kinder aus Gemeinschaftsunterkünften in Berlin eine Kita.
Im Rahmen des Erstscreenings durch das Jugendamt wird für unbegleitete Minderjährige eine Alterseinschätzung gemäß Paragraf 42f Sozialgesetzbuch VIII vorgenommen. Das behördliche Verfahren fußt nur unzureichend auf verbindlichen Standards, und es ist unstrittig, dass eine zweifelsfreie Einschätzung unmöglich ist. Von Amts wegen kann eine ärztliche Untersuchung angeordnet werden, die ggf. eine radiologische Untersuchung beinhalten kann. Auch diese Methode ist unzuverlässig und wird mittlerweile von diversen ärztlichen Verbänden und Kinderhilfswerken als unethisch abgelehnt.
Tanja Funkenberg
arbeitet bei terre des hommes Deutschland e.V. als Referentin für Anwaltschaftsarbeit zum Thema Flüchtlingskinder.