Großbaustelle Nachhaltigkeit – Ein Überblick

von den Herausgeber/innen

Vor einem Jahr haben wir den ersten unserer „Schattenberichte“ zur Lage der Nation in Sachen Nachhaltigkeit herausgebracht. Noch viel zu tun, mussten wir konstatieren. Ein Jahr später ziehen wir erneut Bilanz – und es wird nicht überraschen, dass wir zu ganz ähnlichen Schlüssen kommen, obwohl wir uns diesmal andere Themenfelder vorgenommen haben.

Ausgangspunkt – aber nicht alleiniger Maßstab – für die Betrachtungen in diesem Band ist die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, die im September 2015 von den Staats- und Regierungschefs aller UN-Mitglieder – darunter auch die Bundesregierung – in New York verabschiedet wurde. Darin enthalten sind 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs), in denen sowohl Anforderungen an globale und nationale Politiken definiert werden, als auch Wege zur deren Erfüllung. Die Agenda enthält außerdem Ansätze für einen Überprüfungsmechanismus, der in der Zeit bis 2030 die Erreichung der Ziele begleiten soll. Dieser Band versteht sich unter anderem als Beitrag zu dieser Überprüfung für Deutschland.

Auch wenn die Agenda 2030 stark an Vorgängerprojekte der Vereinten Nationen erinnert, allen voran die 2015 ausgelaufenen Millenniumsentwicklungsziele, so bringt sie doch qualitativ einige Fortschritte mit sich. Zum einen stellt sie eine tatsächliche Nachhaltigkeitsagenda dar, d.h. sie befasst sich nicht ausschließlich mit Fragen sozialer oder ökonomischer Entwicklung, sondern sieht diese im Zusammenspiel mit ökologischen Fragen und umgekehrt. Mehr noch: Die drei klassischen Säulen der Nachhaltigkeit – Soziales, Ökonomie, Ökologie – wurden um die beiden Aspekte Frieden und globale Partnerschaft zu einem fünf-dimensionalen Modell „Menschen, Planet, Wohlstand, Frieden, Partnerschaft“ erweitert.

Zum anderen hat sie einen universellen Anspruch. Sie soll nicht mehr ausschließlich oder prioritär Strategien für die sog. Entwicklungsländer oder die Länder des globalen Südens formulieren, sondern auch die nötigen Beiträge der reichen Länder des globalen Nordens ausbuchstabieren. Genau hier setzen wir an. Was muss sich in Deutschland, an der deutschen Politik ändern, damit sowohl Deutschland als auch andere Länder auf dem Globus die Möglichkeit haben, einen Pfad nachhaltiger Entwicklung einzuschlagen? Auch Deutschland ist von einer Entwicklung hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft im Sinne der fünf Dimensionen der Agenda 2030 noch meilenweit entfernt.

In Anlehnung an die 17 SDGs formuliert dieser Schattenbericht Analysen, Kritik und mögliche Handlungsanweisungen für 17 Themenbereiche, von der Altersarmut bis hin zur deutschen Außenpolitik (in Teil II). Voran stellen wir Querschnittsanalysen zu Bereichen, die in der Logik der 17 SDGs nur unzureichend zu verorten wären, etwa zum Themenbereich „Populismus“ oder der Frage internationaler Steuerkooperation (Teil I). Insgesamt lassen sich die Aussagen dabei drei Leitmotiven zuordnen:

Zunächst ist festzuhalten, dass Deutschland noch lange nicht auf einem Weg hin zu nachhaltigen Lebensweisen ist. Das gilt auch für die Situation in Deutschland und betrifft die Menschen hierzulande sowohl in sozialer (Stichworte Ungerechtigkeit und Armut), in ökonomischer (Energiepolitik und Infrastruktur), als auch ökologischer Hinsicht (u.a. Feinstaubbelastung, Zustand der Ökosysteme) sowie in einer zunehmenden Gewaltbereitschaft und Polarisierung (Extremismus und Populismus), welche die Prinzipien „Frieden“ und „Partnerschaft“ in Frage stellen. „Nachhaltigkeit“ für Deutschland hieße also auch, die Lebenssituation der Menschen hierzulande zu verbessern.

Weiterhin hat die Art und Weise, wie wir in Deutschland unser Zusammenleben, unseren Konsum und unsere Produktion organisieren, Auswirkungen auf Menschen am anderen Ende der Erde. Deutschland hat einen „Fußabdruck“ in der Welt, der größer ist, als er sein sollte. Das gilt sowohl für unseren Ressourcenverbrauch, als auch für den Ausstoß von Klimagasen, aber natürlich auch für Themen wie die Agrarpolitik oder den Außenhandel.

Zuletzt ist zu attestieren, dass Deutschland seiner internationalen Verantwortung nicht gerecht wird, u.a. in den Bereichen Entwicklungszusammenarbeit, aber auch in der globalen Wirtschafts- und Umweltpolitik.

Adressat für die Analysen in diesem Band ist nicht zuletzt die Politik der Bundesregierung, in welcher Konstellation sie auch immer nach der Bundestagswahl im Herbst 2017 zusammentreten wird. Denn – und das zeigen die Beiträge in unserem Schattenbericht – das Vertrauen auf einen Bewusstseinswandel von Konsument/innen und Produzent/innen allein wird uns dem Ziel „Nachhaltigkeit“ nicht rasch genug näher bringen.

 

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Was Sie in diesem Bericht erwartet

Die Komplexität der Nachhaltigkeitspolitik insgesamt, aber auch die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Themenbereichen spiegeln sich in der Gliederung des Berichts sowie in den vielen Querbezügen zwischen den einzelnen Kapiteln wieder. Was Sie in diesem Band erwartet, fassen wir in diesem Überblick zusammen. Entsprechend der Verbundenheit der einzelnen Problemfelder folgt dieser nicht der Struktur des Berichts, sondern fasst inhaltlich verwandte Bereiche zusammen. Leserinnen und Lesern, die nach einzelnen Kapiteln suchen, sei das Inhaltsverzeichnis zur Orientierung empfohlen.

Widersprüchliche Tendenzen analysiert Bernd Bornhorst in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Steigende Haushaltsmittel seien das eine, aber er sieht die Gefahr eines tiefgreifenden Paradigmenwechsels in der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik. „Immer mehr wird die Werteorientierung der Außen- und Entwicklungspolitik überwölbt von Abschottung und Flüchtlingsabwehr. Es besteht die Gefahr, dass die Entwicklungspolitik für innen- und sicherheitspolitische Interessen instrumentalisiert wird.“ Trotz vieler im Prinzip sinnvoller Initiativen, Programme und Pläne setze Entwicklungsminister Gerd Müller dem wenig entgegen. Eine kohärente, werteorientierte Politik „aus einem Guss“ sei deshalb nicht in Sicht (siehe Kapitel I.01).

„Selektiven Multilateralismus“ bescheinigt Jens Martens in seinem Beitrag „Mit Vollgas auf der Bremse“ der deutschen Außenpolitik. Bei der diplomatischen Unterstützung der Agenda 2030 in den Vereinten Nationen zeige die Bundesregierung besonderes Engagement, Tatenlosigkeit könne man ihr nicht vorwerfen. Bei zahlreichen brisanten Themen gehöre Deutschland jedoch zu den Bremsern: Von der Schaffung eines Staateninsolvenzverfahrens über die internationale Steuerkooperation und die Debatten über ein internationales Rechtsinstrument im Bereich Wirtschaft und Menschenrechte bis zu den Verhandlungen über ein Verbot von Atomwaffen. Kohärenz bei der SDG-Umsetzung erfordere aber gerade in den „harten“ wirtschafts- und finanzpolitischen Bereichen mehr politisches Engagement (siehe Kapitel II.17).

Bei Steuern und Abgaben geht es ums Eingemachte, daher haben wir zu dieser Großbaustelle mehrere Artikel. Swantje Fiedler und Clemens Wunderlich konstatieren: Deutschlands Steuerpolitik ist nicht nachhaltig. „Steuern und Abgaben belasten vor allem den Faktor Arbeit, während das Verursachen von Klima-, Umwelt- oder Gesundheitsschäden kaum besteuert oder sogar subventioniert wird. Es ist Zeit für eine nachhaltige Finanzreform.“ (siehe Kapitel I.03) Sarah Godar und Lisa Großmann attestieren der Regierung erhebliche Defizite im Kampf gegen Steuerflucht und befürchten eine neue Runde im Steuersenkungswettlauf. Hunderte Milliarden Euro gehen den Staaten global durch die Erosion der Steuerbasis und Gewinnverschiebungen multinationaler Konzerne jährlich verloren. Schwindelerregende Summen, die die relative Untätigkeit der Regierungen umso skandalöser erscheinen lassen.

Zuviel Konzerneinfluss auf die Politik konstatieren Myriam Douo und Sophie Colsell. Mit ihrer Initiative „Better Regulation“ wolle die EU-Kommission Bürokratie abbauen und europäisches Recht vereinfachen. In der Praxis bedeute es mehr Ko- und Selbstregulierung von Unternehmen und gefährde so Fortschritte in Richtung Nachhaltigkeit substanziell. Alles werde kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen untergeordnet. Note sechs aus Nachhaltigkeitssicht (siehe Kapitel I.04).

Beim Abgasskandal hat man gesehen, wozu solche Selbstregulierung führt. Genau das untersucht Jürgen Resch akribisch in seinem Beitrag „Autorepublik Deutschland“ und konstatiert: „Mit der Wahl von Angela Merkel zur Bundeskanzlerin einer großen Koalition im Herbst 2005 endete eine eigenständige Umweltpolitik im Bereich der Automobilwirtschaft. Die vier von Auto-Kanzlerin Angela Merkel ernannten Bundesumweltminister vertraten und vertreten in Fragen des Straßenverkehrs im Wesentlichen die Interessen der Automobilindustrie.“ Die Konsequenz seien mehr als 10.000 Tote jährlich durch Asthma und andere Atemwegserkrankungen. Besserung sei nicht in Sicht, der Staat versage „mit Ansage“, daher müssten „Umwelt- und Verbraucherschutzverbände illegale Absprachen enthüllen und betrügerische Verstöße bei CO2-Angaben und unwirksamen Katalysatoren verfolgen. Sie übernehmen damit Aufgaben des Staates, der es im Falle großer Unternehmen generell nicht mehr wagt, Recht und Gesetz durchzusetzen.“ Sieht nach Großbaustelle aus, Staus und Umleitungen sind zu erwarten (siehe Kapitel I.05).

Ragnar Hoenig und Luise Steinwachs wenden sich einem Thema zu, das in Zukunft erheblich an Brisanz gewinnen wird. Deutschland hat seit 2000 den Niedriglohnsektor massiv ausgeweitet. Es kann kaum überraschen, dass die Konsequenz von Löhnen, die kaum zum Leben reichen, Renten sein werden, die erst recht nicht zum Leben reichen. „Ein wesentlicher Faktor sind prekäre oder informelle Arbeitsverhältnisse – insbesondere bei Frauen – und schwach entwickelte staatliche soziale Sicherungssysteme, die den Menschen oftmals keine Alterssicherung ermöglichen.“ Eine Baustelle, die durch Nichtstun nicht kleiner, sondern grösser wird (siehe Kapitel II.01).

Kai Lindemann und Thomas Fischer widmen sich derselben Frage im größeren Kontext. Sie kritisieren, dass der ökologische Umbau lange ohne soziale Dimension gedacht wurde. Das könne aber nicht funktionieren. „Soziale Ungleichheit ist in Deutschland in den letzten 20 Jahren gestiegen. Die reichsten 10 Prozent der hiesigen Bevölkerung verfügen über 57,5 Prozent, das wohlhabendste eine Prozent über 24 Prozent des Gesamtnettovermögens. Am anderen Pol der Vermögensverteilung besitzen 70 Prozent der Bevölkerung gerade einmal neun Prozent des Gesamtvermögens.“ Sie weisen darauf hin, dass die einkommensstärksten Gruppen zwar in Umweltfragen am engagiertesten sind, aber der sozialen Dimension meist wenig Bedeutung zumessen. Aber als Minderheit können sie den ökologischen Umbau nicht alleine bewältigen (siehe Kapitel II.08).

Das heikelste Praxisbeispiel dafür ist vielleicht der Kohleausstieg, den wir genau deshalb thematisieren. Reinhard Klopfleisch fragt, „wie kann ein sozialverträglicher Kohleausstieg aussehen? Wie wäre ein „Kohlekonsens“ mit den Beschäftigten möglich?“ Die Überlegungen von ver.di, den von der Umgestaltung Betroffenen mit einem Sozialpool soziale Sicherheit zu garantieren, sind beispielhaft für den Versuch, ökologische Umgestaltung sozial zu begleiten (siehe Kapitel II.07).

Billige Nahrungsmittel und ihre Folgen Kerstin Lanje und Tobias Reichert beschreiben anhand des Milchsektors die deutsche und EU-Agrarpolitik als Nachhaltigkeits-Katastrophengebiet. Forcierte Industrialisierung mache nicht nur die bäuerliche Landwirtschaft in Deutschland kaputt, sondern auch in Afrika. Eine Politik, die längst nicht mehr mehrheitsfähig sei, aber von Bundesregierung und EU-Kommission unbeirrt fortgesetzt werde. Bei dieser Politik kann man nur konstatieren: Pfusch am Bau, abreißen und ganz neu anfangen (siehe Kapitel II.02).

Jens Holst und Christian Wagner-Ahlfs untersuchen das Phänomen der Antibiotikaresistenzen, das eng verwoben ist mit der heutigen Tierhaltung. Die Politik habe das Problem durchaus erkannt. „Der Fokus wird aber auf medizin-technologische Ansätze gerichtet – das wird der Komplexität der Herausforderungen nicht gerecht.“ Dafür müsste das Massentierhaltungssystem und die Anreizsysteme in der Humanmedizin geändert werden, die zu übertriebener und missbräuchlicher Verwendung führen (siehe Kapitel II.03).

Über den Menschenhandel schreiben Sarah Schwarze und Naile Tanış. Menschenhandel werde als eine Straftat verstanden, bei der Personen gezwungen werden, gegen ihren Willen Tätigkeiten zu verrichten, durch die eine andere Person profitiert. Menschenhandel zu bekämpfen bedeute aber anzuerkennen, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Ein vielschichtiges Phänomen verlange nach vielschichtigen Lösungsansätzen. „Die von der Bundesregierung in der aktuellen Legislaturperiode eingeleiteten Maßnahmen, die zum Teil auch in der Nachhaltigkeitsstrategie aufgeführt werden, sind sicherlich gute erste Schritte, um Menschenhandel und Ausbeutung etwas entgegenzusetzen, z.B. die umfassende Reform der Straftatbestände zu Menschenhandel im Jahr 2016.“ Sie legen Wert darauf, dass neben Strafverfolgung die Stärkung der Rechte der Betroffenen zentral sei. „Eine effektive Bekämpfung des Menschenhandels und der Ausbeutung ist ohne die Unterstützung der Betroffenen und die Stärkung ihrer Situation nicht möglich. Daher sollte Deutschland einen rechtebasierten Ansatz verfolgen, bei dem die Rechte der Betroffenen zumindest gleichrangig mit der Strafverfolgung im Fokus stehen.“ Diese Baustelle harrt noch der Fertigstellung (siehe Kapitel II.05).

Mehr in Bildung investieren und damit soziale Gerechtigkeit weltweit fördern, fordert Sarah Kleemann in ihrem Artikel zur Bildungspolitik. Zur Umsetzung der SDGs in allen Bildungsbereichen müsse Deutschland deutlich mehr finanzielle Ressourcen bereitstellen. In der OECD sei Deutschland nur Mittelmaß bei den Bildungsausgaben im Vergleich mit der Wirtschaftskraft – und sie konstatiert nicht nur einen gewaltigen Sanierungs- und Investitionsstau bei Bildungseinrichtungen, sondern auch schlechte und oft prekäre Bezahlung bei den dort Beschäftigten. Offenbar hat man im Land der Dichter und Denker heute andere Prioritäten (siehe Kapitel II.04).

Erhebliche Defizite bei der Umsetzung der immerhin rechtsverbindlichen UN-Behindertenrechtskonvention konstatieren Martin Danner, Nicole Kautz und Holger Borner. Trotz des zentralen Leitmotivs der Agenda 2030, niemanden zurück zu lassen („Leave no one behind“) agiere die deutsche Politik bei der Umsetzung der Konvention immer noch viel zu zögerlich. Schon die Schaffung rechtlicher Grundlagen bereite große Probleme (siehe Kapitel I.07).

Mit der globalen Verstädterung befasst sich Almuth Schauber. Konsequenz: Mehr Stadtbevölkerung, mehr Armenviertel, und eine wachsende konsumintensive urbane Mittel- und Oberschicht. „Massive Infrastrukturinvestitionen werden nötig sein: In den nächsten drei Jahrzehnten werden Schätzungen zufolge so viele Infrastrukturprojekte neu entstehen wie insgesamt in den vergangenen 5.000 Jahren. Deshalb ist die Art und Weise, wie Städte in den nächsten drei Jahrzehnten gedacht, geplant und gebaut werden, entscheidend für die Umsetzung der SDGs.“ Die Debatte um ‚Smart Cities‘ treffe auf die weltweite gesellschaftliche Diskussion um eine Umnutzung und Rückeroberung urbaner Räume. Sie stellt die Frage „ob ‚Smart Cities’ gesellschaftlich und ökonomisch ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen Optionen bereitstellen, sich an den Entwicklungen ihrer Städte zu beteiligen oder von den angebotenen Dienstleistungen zu profitieren.“ Viel Phantasie sei erforderlich, um sich unter diesen Umständen faire ‚Smart City‘-Konzepte mit gerechtem Zugang auch für bisher ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen vorzustellen. Ihre Forderung „Lebenswerte Städte für alle“ ist ganz buchstäblich eine weitere Großbaustelle (siehe Kapitel II.11).

Christian Heise fragt: Ist Deutschland ein digitales Schwellenland? Er attestiert, wir sind unteres Mittelmaß bei leistungsfähigen Zugängen zu digitalen Netzwerken. „Das führt dazu, dass Privatpersonen, sowie kleine und mittlere Betriebe in ländlichen Regionen, von der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung abgeschnitten sind – ein Armutszeugnis für Deutschland.“ Bis auf wenige Ausnahmen fehlen der deutschen Politik offenbar der Wille und die Kompetenz, die Digitalisierung konstruktiv zu gestalten, stattdessen der deutsche Sonderweg bei der Störerhaftung und dem fehlenden Bekenntnis für Netzneutralität – Konsequenz: „In Deutschland haben lokale, ehrenamtliche Initiativen in knapp 400 Orten mit über 40.000 Zugängen das größte nicht-kommerzielle freie Funknetzwerk in Europa aufgebaut: Freifunk.net. Solche freien Netze werden von immer mehr Menschen in Eigenregie aufgebaut und gewartet. Die Verbreitung dieser freien Netzwerke, so die Vision, ermöglicht die Demokratisierung der Kommunikationsmedien und unterstützt die Förderung lokaler Sozialstrukturen in einer digitalen Gesellschaft.“ (siehe Kapitel II.09)

Antje Monshausen bringt Tourismus und Wasserknappheit zusammen. Sie wundern sich, was hat das miteinander zu tun? „Der Wasserverbrauch auf Reisen ist nicht nur wesentlich höher als zu Hause, Tourismus findet auch häufig in Regionen statt, die unter Wassermangel leiden.“ Die Deutschen als Reiseweltmeister verstärken also Wasserknappheit. Durchschnittlich 120 Liter Wasser pro Tag verbrauche jeder Mensch in Deutschland im Haushalt, weitere 5.000 Liter „virtuelles Wasser“ komme hinzu, also Wasser, das benötigt wird für die Herstellung von Nahrungsmitteln und Gütern. Sie kommt zum Ergebnis: „Auf Grund seines hohen und zunehmenden Wasserverbrauchs, ist der Tourismus momentan eher ein Hemmschuh für die Erreichung von SDG 6. Damit sich dies ändert, ist in Deutschland eine grundlegende Politik-, Unternehmens- und Konsumwende im Tourismus nötig.“ (siehe Kapitel II.06)

Um den Konsum geht es auch bei Kathrin Krause. Nachhaltiger Konsum sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, dafür seien staatliche Leitplanken notwendig. Das könne nicht an Verbraucherinnen und Verbraucher delegiert werden. „Die Bundesregierung muss politische Rahmenbedingungen schaffen und die wichtigsten Akteure auf dem Markt – Hersteller und Handel – in die Verantwortung nehmen. Staatliche Mindestkriterien für eine sozial- und ökologisch verantwortliche Produktion sind notwendig, damit sich Verbraucher wie auch Produzenten am Markt orientieren können.“ Das Nationale Programm für nachhaltigen Konsum reiche dafür nicht aus. Auch das Thema Suffizienz – wieviel ist genug? – dürfe nicht ausgespart werden. So ein Gedanke ist in einer Wachstumswirtschaft fast schon eine Regelverletzung (siehe Kapitel II.12).

Suffizienz ist auch das Thema von Nikolaus Geiler, der sich mit der sogenannten Bioökonomie beschäftigt. Nicht überall wo Bio draufsteht sei auch Bio drin. „Auf den ersten Blick könnte die Umstellung von einer erdölbasierten auf eine Biomasse-basierte Wirtschaft als ein wesentlicher Beitrag zu einer nachhaltigeren Gesellschaft erscheinen.“ Aber soviel Biomasse habe der Planet gar nicht, um fossile durch heutige Biomasse 1:1 zu ersetzen. Heute sei Erdöl sowieso viel zu billig, die Bioökonomie sei festgefahren. Daher werde nun mehr und mehr der Anschluss an die Ziele für nachhaltige Entwicklung gesucht. Aber: „Die SDGs lassen sich in weltweiter und nationaler Perspektive nur realisieren, wenn prioritär der Warenumschlag reduziert wird – und erst sekundär kann es dann darum gehen, fossile Rohstoffe durch biogene Rohstoffe zu ersetzen.“ Bei dieser Großbaustelle wissen wir offenbar bisher nicht einmal, welche Baustoffe wir eigentlich verwenden sollen (siehe Kapitel II.15).

Auch Michael Reckordt findet, wir verbrauchen zu viel. Sein Beitrag über den Tiefseebergbau zeigt: „Die deutsche Wirtschaft ist zu nahezu einhundert Prozent von Primärmetallimporten abhängig. Ihre Versorgungssicherheit ist die zentrale rohstoffpolitische Agenda der Industrie. Ökologische und soziale Auswirkungen in den Abbauregionen werden kaum thematisiert. Zusammen mit der Bundesregierung versucht die Industrie, zukünftig ihre Rohstoffversorgung auch durch Tiefseebergbau zu sichern.“ Es müsse darum gehen, den viel zu hohen Rohstoffverbrauch an Land und die ökologischen Risiken in der Tiefsee ins Zentrum der Diskussion zu rücken – und nicht eine Digitalisierung zu propagieren, die den Rohstoff-Verbrauch für Elektronik, Elektromobilität und andere Güter noch weiter steigert. Er kommt zum Schluss: „Tiefseebergbau steht der Umsetzung der SDGs diametral entgegen. Die Lösung unseres Rohstoffhungers muss an Land gefunden werden und eine absolute Verbrauchsreduktion beinhalten. Dazu müssen die Kreislaufwirtschaft, die längere Nutzung von elektronischen Gütern sowie die bessere Recycling- und Reparierfähigkeit ausgebaut werden.“ Diese Baustelle sollten wir also besser gar nicht erst eröffnen (siehe Kapitel II.14).

Stefan Tuschen setzt sich mit Klimagerechtigkeit auseinander. Länder wie Deutschland, die zu den Hauptverursachern des Klimawandels zählen, seien bislang kaum mit seinen Auswirkungen konfrontiert, und können sich dagegen wappnen. „Auf der anderen Seite leiden diejenigen Menschen, die am wenigsten zu den Klimaveränderungen beigetragen haben, bereits heute und auch in Zukunft am meisten unter den Folgen. Klimawandel und Klimaschutz werden somit zu einer Frage von Gerechtigkeit und Solidarität.“ (siehe Kapitel II.13)

Pedro Morazán schreibt über die mehr als 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht vor Krieg, Gewalt, Hunger oder Naturkatastrophen – so viele wie noch nie. Statt der vielzitierten Ursachenbekämpfung steht immer mehr die Abschottung im Vordergrund. „In der neoliberalen Globalisierung darf sich das Kapital, nicht aber die Menschen frei über nationale Grenzen hinweg bewegen.“ Von dieser Sichtweise sei auch die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung geprägt. Als Gewinner der Globalisierung habe Deutschland eine große strukturelle Verantwortung, die sich darin nicht ausreichend widerspiegele (siehe Kapitel II.10).

Mit den Gefahren für die Demokratie durch Rechtspopulismus befassen sich Stefan Paul Kollasch und Christian Woltering. Die Antwort darauf können nur eine menschenrechtsbasierte Politik und eine solidarische Gesellschaft sein: „Es gilt, gesellschaftliches Engagement anzuerkennen, zu schützen und zu stärken, d.h. mit den nötigen Ressourcen auszustatten. Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie bietet dafür einen guten Rahmen, aber zu wenig konkrete Anknüpfungspunkte.“ Deutlich macht die Analyse aber auch: Es muss ein Umdenken stattfinden in der Gesellschaft. Wir leben in einer Migrationsgesellschaft – und diese will gestaltet sein: „Integration und Vielfalt gehören ins Grundgesetz, wir brauchen endlich ein Einwanderungsgesetz, die Interkulturelle Öffnung [...] muss Priorität erhalten – etwa nach dem Vorbild der Implementierung des Gender Mainstreaming [...].“ Die strukturelle Diskriminierung von Flüchtlingen müsse beendet, ein Asylverfahren geschaffen werden, das rechtsstaatlichen Anforderungen genügt. Die Verteilungsfrage müsse ebenso angegangen werden, wie eine gerechtere Steuer- und Sozialpolitik. Zuletzt müsse „die Bekämpfung des Rassismus und anderer menschenverachtender Einstellungen auf allen Ebenen in Bund und Ländern, aber auch in der Gesellschaft selbst, konsequent fortgeführt werden.“ (siehe Kapitel I.02)

Zu diesem Schluss kommen auch Richard Klasen und Martin Quack. Die Nachhaltigkeitsstrategie müsse auch Gewalt und Hasskriminalität in Deutschland thematisieren. Das von der Bundesregierung selbst formulierte Ziel „Ein sicheres Umfeld, in dem die Bürger ohne Angst vor Willkür und Kriminalität leben können“ werde bisher verfehlt. Als Gesine Schwan 2009 – also lange vor der so genannten „Flüchtlingskrise“ – aufgrund einer zunehmenden sozialen Ungleichheit im Land vor einer „explosiven Stimmung“ in Deutschland und einer „Gefahr für die Demokratie“ warnte, war die Ablehnung groß. Doch steigt die Hasskriminalität gegen Ausländerinnen, Ausländer und Andersdenkende kontinuierlich an: In den letzten sieben Jahren hat sie sich fast verdreifacht. In der neuen deutschen Nachhaltigkeitsstrategie werden diese Entwicklungen ebenso wenig thematisiert wie in anderen Verlautbarungen und Politiken der Bundesregierung zur Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Auch das ohne Zweifel eine Großbaustelle (siehe Kapitel II.16).

Literature

Bundesregierung (2017): Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie – Neuauflage 2016. Berlin.
www.bundesregierung.de/Content/Infomaterial/BPA/Bestellservice/Deutsche_Nachhaltigkeitsstrategie_Neuauflage_2016.pdf

UN-Generalversammlung (2015): Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. UN Dok. A/70/L.1. New York.
www.un.org/depts/german/gv-70/a70-l1.pdf