Die Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Behinderung

Maßstab einer nachhaltigen Gesellschaft
Demonstration zur Anhörung des Bundesteilhabegesetzes in Berlin.
Demonstration zur Anhörung des Bundesteilhabegesetzes in Berlin.
Jörg Farys Gesellschaftsbilder.de (2016): Demo zur Anhörung des Bundesteilhabegesetz (CC BY-NC-SA)

Von Martin Danner, Nicole Kautz und Holger Borner

Gesellschaften sind nur dann nachhaltig, wenn alle Bevölkerungsgruppen an ihnen teilhaben können. Dies ist eine zentrale Botschaft der globalen Nachhaltigkeitsziele. Deutschland hat sich im Jahr 2009 dazu verpflichtet, die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) umzusetzen und damit die Inklusion von Menschen mit Behinderung zu ermöglichen. Verbände wie der Deutsche Behindertenrat kritisieren, dass trotz erkennbarer Reformbemühungen und Fortschritte die UN-BRK noch immer nicht in hinreichendem Maße in innerdeutsches Recht umgesetzt wurde. Es besteht weiterhin erheblicher politischer und gesellschaftlicher Handlungsbedarf. Dazu gehören Reformen im Rahmen des Behindertengleichstellungsgesetzes, des Bundesteilhabegesetzes, eine Nachbesserung des nationalen Aktionsplans zur Umsetzung der UN-BRK sowie eine Überarbeitung des Bundeswahlgesetzes.

 

Ein Kernanliegen der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung ist es, niemanden zurück zu lassen („Leave no one behind“). Bei der Verwirklichung der globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) muss es deshalb Priorität haben, marginalisierte und benachteiligte Bevölkerungsgruppen tatsächlich zu erreichen (SDG 10.2 und 10.3). Zu diesen gehören Menschen mit Behinderungen in besonderer Weise.

Nur eine umfassende Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) wird zum angestrebten Ziel der vollen und wirksamen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben in der Gemeinschaft führen. Es gilt, Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Menschen mit Behinderungen oder chronischer Erkrankung ohne irgendeine Form der Benachteiligung in allen Lebensbereichen, d.h. auf dem Arbeitsmarkt (SDG 8.5), im Bereich der Bildung (SDG 4.5), der gesundheitlichen Versorgung (SDG 1.3) oder auch bei kulturellen Aktivitäten (SDG 10.2) aktiv und umfassend mitwirken können und von bestehenden Möglichkeiten genauso profitieren wie Nichtbehinderte.

Leider agiert die deutsche Politik bei der Umsetzung der UN-BRK immer noch viel zu zögerlich. Insbesondere bei der Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen in innerdeutsches Recht bestehen weiterhin Defizite. Dazu gehört die Prüfung, ob neue Gesetzesvorhaben in hinreichender Weise den Vorgaben der UN-BRK gerecht werden bzw. welche gesetzlichen Maßnahmen erforderlich sind, um die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu verwirklichen, sowie bestehende Gesetze auf entsprechende Defizite hin zu untersuchen, um im Bedarfsfall notwendige gesetzgeberische Korrekturen vorzunehmen.

Widerstand rufen vor allem die mit der Verwirklichung von Behindertenrechten erwarteten Mehrkosten für Bund, Länder und Kommunen sowie die stärkere behinderungspolitische Verantwortung von Unternehmen hervor. Dabei sollten wirtschaftliche Bedenken eigentlich keinen Vorrang vor der diskriminierungsfreien Gestaltung unserer Gesellschaft haben. Die UN-BRK schafft keine zusätzlichen Ansprüche von Menschen mit Behinderungen, vielmehr konkretisiert sie die geltenden Menschenrechte im Hinblick auf ihre spezifische Lebenssituation.

Besonders deutlich zeigen sich die Defizite der deutschen Politik bei den beiden zentralen behinderungspolitischen Reformen der zu Ende gehenden Legislaturperiode, dem Gesetz zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts und dem Bundesteilhabegesetz (BTHG).

 

Die Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes

Das Behindertengleichstellungsrecht ist die Weiterentwicklung des seit 2002 bestehenden Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) und regelt beispielsweise Fragen der Barrierefreiheit in den Bereichen Bau, Infrastruktur und die Verwendung der Gebärdensprache sowie der Leichten Sprache. Ziel der Reform des BGG ist unter anderem die Zugänglichkeit von Gebäuden und Anlagen, die Benutzbarkeit des öffentlichen Verkehrs, den Zugang zu Bildung auf sämtlichen Bildungsstufen, die Nutzung von Dienstleistungen und die Möglichkeit, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Die Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) stellt einen wichtigen Schritt hin zu mehr Barrierefreiheit und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen dar, bleibt aber in Schlüsselbereichen hinter menschrechtlichen Standards zurück, wie der Deutsche Behindertenrat, ein Aktionsbündnis von Organisationen behinderter und chronisch kranker Menschen in Deutschland, deutlich gemacht hat. [fn]Deutscher Behindertenrat (2016). [/fn] Die Bundesregierung konnte sich zum Beispiel nicht dazu durchringen, private Anbieter von Waren und Dienstleistungen zur Schaffung von Barrierefreiheit zu verpflichten – Teilhabe beschränkt sich aber nicht auf Behördengänge, sondern erstreckt sich gleichermaßen auf private Bereiche. Inklusion ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Artikel 9 der UN-BRK bezieht das Recht auf Barrierefreiheit ausdrücklich nicht nur auf Verwaltungen und sonstige öffentlich-rechtliche Einrichtungen. [fn]Art. 9 (2) UN-BRK: „Die Vertragsstaaten treffen außerdem geeignete Maßnahmen, [...] b) um sicherzustellen, dass private Rechtsträger, die Einrichtungen und Dienste, die der Öffentlichkeit offen stehen oder für sie bereitgestellt werden, anbieten, alle Aspekte der Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen berücksichtigen; [...]“ [/fn] Wenn sich private Rechtsträger Maßnahmen zur Stärkung der Barrierefreiheit verweigern, sollte dies als Form der Benachteiligung rechtlich anerkannt werden. Die Liste der Diskriminierungstatbestände im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) wäre entsprechend zu ergänzen.

 

Das Bundesteilhabegesetz

Noch deutlicher werden die Defizite der gegenwärtigen Behindertenpolitik im Zusammenhang mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG), das seit dem 1. Januar 2017 stufenweise in Kraft tritt. Ein langer, intensiver Beteiligungsprozess sowie politische Ankündigungen hatten zu hohen Erwartungen bei den involvierten Akteuren geführt. Insbesondere die im Sozialgesetzbuch XII geregelte Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen war in vielerlei Hinsicht als dringend reformbedürftig angesehen worden. Demgegenüber sind nunmehr sogar Regelungen im BTHG enthalten, die aus Sicht mancher Betroffener zu Verschlechterungen und sogar Leistungsausschlüssen im Vergleich zur bisherigen Rechtslage führen. Beispielsweise war im Vorfeld des BTHG bereits kritisiert worden, dass nur Menschen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe haben sollten, die in mindestens fünf von neun Lebensbereichen Unterstützung benötigten oder in mindestens drei von neun Lebensbereichen sogar mit Unterstützung von Teilhabe ausgeschlossen sind. Zudem stieß die gemeinsame Erbringung von Leistungen an mehrere Berechtigte (sog. „Poolen“), auf Kritik. Dieses Vorgehen hat zur Folge, dass Menschen mit Behinderungen ungeachtet ihrer persönlichen Wünsche im Bereich der sozialen Teilhabe bestimmte Angebote in Anspruch nehmen müssten. Ein weiteres Beispiel, welches heftigen Widerstand hervorrief, sind die geplanten Regelungen zu Pflegeleistungen. Pflegeleistungen sollen grundsätzlich vorrangig gegenüber Leistungen der Eingliederungshilfe behandelt werden. Es besteht die Befürchtung, dass Pflegebedürftige dann in ihrem häuslichen Umfeld keine zusätzlichen Eingliederungshilfeleistungen erhalten. Die im Gesetzesentwurf enthaltenen Verbesserungen konnten nicht überzeugen. Die vorgesehene Anhebung der Vermögensfreigrenze wurde zwar begrüßt, aber das Prinzip der Anrechnung von Einkommen und Vermögen bei der Erbringung von Eingliederungshilfeleistungen insgesamt blieb unangetastet.

Nach heftigen Protesten ist es gelungen, zumindest einige nachteilige Regelungen zu verhindern. So bleibt die umstrittene „5-aus-9-Regelung“ ausgesetzt, um im Wege einer begleitenden wissenschaftlichen Untersuchung festzustellen, ob hierdurch tatsächlich Personengruppen, die bisher leistungsberechtigt gewesen sind, nunmehr von vornherein herausfallen. Die Klarstellung, dass Eingliederungshilfe und Pflege gleichrangig nebeneinander bestehen bleiben, trägt zur Beruhigung bei Betroffenen bei. Begrüßenswert sind sicherlich auch die neue Unabhängige Teilhabeberatung sowie Teile der vorgenommenen Korrekturen im Bereich der Teilhabe am Arbeitsleben. Ein wesentlicher Streitpunkt wurde jedoch nicht revidiert: Das Menschenrecht auf freie Wahl von Wohnort und Wohnform ist immer noch nicht realisiert worden. Menschen mit Behinderung brauchen ein umfassendes modernes Wahlrecht, um ihr Leben selbstbestimmt gestalten zu können. Das Recht, in einer eigenen Wohnung, ggf. mit Unterstützung, zu leben, darf nicht aus Kostengründen in Frage gestellt werden. Dies gilt auch für Menschen mit schweren Behinderungen. Das neue Gesetz stärkt die Wunsch- und Wahlrechte nicht, sondern schreibt defizitäre Regelungen der Sozialhilfe fort. Wünschen sich beispielsweise Menschen mit Behinderungen ihr Zuhause in gemeinschaftlichen Wohnformen, sollten sie nicht aus Kostengründen – z.B., weil die Kosten der Unterkunft in einer solchen Wohnform aus den sozialhilferechtlich festgelegten Beträgen nicht gedeckt werden können – aus diesen Wohnformen herausgedrängt werden dürfen oder ihnen der Zugang dorthin verwehrt werden.

Inwieweit das BTHG zu Verbesserungen oder Verschlechterungen im Einzelfall führt, wird die Praxis zeigen. Den umfassenden Vorgaben der UN-BRK entspricht das Gesetz leider nicht. Den fortwährenden menschenrechtlichen Reformbedarf illustrieren auch andere Teilbereiche der deutschen Behindertenpolitik.

 

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Der nationale Aktionsplan zur Umsetzung der UN-BRK

Der jüngst überarbeitete Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (NAP 2.0) enthält 175 Maßnahmen in 13 Handlungsfeldern. Dabei sind erstmals alle Bundesressorts mit eigenen Projekten, Initiativen und sonstigen Aktivitäten einbezogen – ein Zeichen gesamtstaatlicher Verantwortung. Die Neufassung zeichnet sich durch eine größere Orientierung an der UN-BRK aus, doch die Maßnahmen bleiben größtenteils unverbindlich und sind ohne hinreichende Zeitvorgabe und ohne klare Zielrichtung formuliert. In der Einleitung des NAP 2.0 erkennt die Bundesregierung die Notwendigkeit an, die Regelungen der UN-BRK in innerstaatliches Recht zu überführen, um den Betroffenen dadurch subjektive, d.h. einklagbare, Rechtsansprüche zu verleihen; leider lässt der Maßnahmenkatalog nicht erkennen, wie dies auch tatsächlich erfolgen soll.

 

Reform des Bundeswahlgesetzes

Inakzeptabel ist ferner, dass sich die Bundesregierung bislang nicht dazu entschließen konnte, den in Paragraf 13 Nr. 2 und 3 Bundeswahlgesetz enthaltenen Wahlrechtsausschluss von Menschen mit Behinderungen ersatzlos zu streichen und damit die Ausübung des wichtigsten demokratischen Selbstbestimmungsrechts möglichst inklusiv zu gestalten. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat im Jahr 2016 einen Forschungsbericht über die in Deutschland bestehenden Wahlrechtsausschlüsse veröffentlicht, demzufolge heute insgesamt 85.000 Bürgerinnen und Bürgern eine Wahlbeteiligung verwehrt wird. [fn]Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2016). [/fn] Die ungleiche regionale Verteilung der Wahlrechtsausschlüsse ist besonders alarmierend. Das Bundeswahlgesetz verletzt das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben und sollte dringend zur Bundestagswahl im September 2017 aufgehoben werden.

Für die betroffenen Menschen mit Behinderung und ihre Interessensvertretungen wird auch in Zukunft viel zu tun bleiben, wie die zu Beginn des Jahres begonnene Diskussion über die Umsetzung und Weiterentwicklung des BTHG zeigt. Es bleibt zu hoffen, dass nach Verabschiedung der oben genannten Gesetzespakete BGG und BTHG das Thema Behindertenpolitik nicht für die nächsten vier Jahre in der Schublade verschwindet, sondern eine notwendige Sensibilisierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen bei den politisch Verantwortlichen stattfindet und wirksame Schritte zur Umsetzung der UN-BRK in Angriff genommen werden. Dabei müssen Teilhabe und Inklusion auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen stattfinden. Dies kann nur gelingen, wenn das Thema Teilhabe mit einem zielgerichteten politischen Willen angegangen wird und vor allem die Bundesebene den Inklusionsgedanken stärker vorantreibt. Die Umsetzung der Agenda 2030 kann hierbei wichtige Impulse setzen.

Martin Danner
Martin Danner
Name

Martin Danner

Martin Danner ist Bundesgeschäftsführer der BAG SELBSTHILFE e.V. sowie Koordinator des Arbeitsausschusses beim Deutschen Behindertenrat.

Nicole Kautz
Nicole Kautz
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Nicole Kautz

Nicole Kautz ist Projektleiterin für den Themenkomplex gendersensible Selbsthilfearbeit sowie stellv. Koordinatorin des Arbeitsausschusses beim Deutschen Behindertenrat.

Holger Borner
Holger Borner
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Holger Borner

Holger Borner ist Leiter des Referats Recht und Sozialpolitik sowie Mitglied des Arbeitsausschusses des Deutschen Behindertenrats

Literature

Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2016): Diskriminierung – Umfrage in Deutschland 2015. Berlin.
www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Handout_Umfrage_Diskriminierung_in_Dtschl_2015.pdf

Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen (2014): Die UN-Behindertenrechtskonvention – Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Berlin.
www.behindertenbeauftragter.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Broschuere_UNKonvention_KK.pdf

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2016): Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen mit Behinderung. Forschungsbericht 470. Berlin.
www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/Forschungsberichte/fb470-wahlrecht.pdf

Deutscher Behindertenrat (2016): Forderungen des Deutschen Behindertenrates (DBR) zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen 2016. Berlin.
www.deutscher-behindertenrat.de/ID191082

Deutscher Bundestag (2013): Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Berlin.
www.gesetze-im-internet.de/agg/

Deutscher Bundestag (2016): Bundeswahlgesetz (BWahlG). Berlin.
www.gesetze-im-internet.de/bwahlg/

Deutscher Bundestag (2016): Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz – BGG). Berlin.
www.gesetze-im-internet.de/bgg/index.html

Deutscher Bundestag (2016): Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG). Berlin.
www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Meldungen/2016/bundesteilhabegesetz.pdf