17—Mit Vollgas auf der Bremse

Deutschlands selektiver Multilateralismus in den Vereinten Nationen
Nur Vordergründig ein Champion multilateraler Politik? Die Bundesregierung bremst in vielen Prozessen.
Nur Vordergründig ein Champion multilateraler Politik? Die Bundesregierung bremst in vielen Prozessen.
United Nations Photo/Mark Garten/Flickr (2015): Chancellor of Germany Addresses Summit on Sustainable Development (CC BY-NC-SA 2.0)

Von Jens Martens

Am 21. September 2016, fast genau ein Jahr nach Verabschiedung der Agenda 2030, präsentierte sich die Bundesregierung bei den Vereinten Nationen in New York einmal mehr als Vorreiterin des Multilateralismus. An diesem Tag kündigte sie ihre Kandidatur für einen nicht-ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat für die Periode 2019-20 an. In ihren „Bewerbungsunterlagen“ heißt es:

„Als größte Volkswirtschaft und bevölkerungsreichstes Land in Europa verfügt die Bundesrepublik sowohl über die materiellen Fähigkeiten als auch über den politischen Willen, um international Verantwortung zu übernehmen. Dies gilt besonders für unser Engagement in den Vereinten Nationen.“ [fn]Ständige Vertretung Deutschlands bei den Vereinten Nationen (2016), S. 1. [/fn]

Tatsächlich demonstriert die Bundesregierung im Umsetzungsprozess der Agenda 2030 auf UN-Ebene mit einigen Aktivitäten besonderes Engagement. Bei zahlreichen brisanten Themen, von der Schaffung eines Staateninsolvenzverfahrens über die internationale Steuerkooperation und die Debatten über ein internationales Rechtsinstrument im Bereich Wirtschaft und Menschenrechte bis zu den Verhandlungen über ein Verbot von Atomwaffen, gehörte Deutschland jedoch in den letzten Jahren zu den Bremsern. Eine kohärente Stärkung der Vereinten Nationen im Sinne der Agenda 2030 und der in SDG 17 beschworenen Globalen Partnerschaft erfordert aber gerade in den „harten“ wirtschafts- und finanzpolitischen Bereichen mehr politisches Engagement auf UN-Ebene.

 

Bei der diplomatischen Unterstützung der Agenda 2030 auf UN-Ebene braucht sich die Bundesregierung keine Tatenlosigkeit vorwerfen zu lassen. Bereits bei der Unterzeichnung der Agenda gehörte sie zu der von Schweden initiierten „High-Level Support Group“, deren neun Mitglieder (neben Deutschland und Schweden noch Brasilien, Kolumbien, Tunesien, Liberia, Südafrika, Tansania und Timor-Leste) sich verpflichtet haben, auf nationaler und internationaler Ebene beispielhaft zu einer raschen und ambitionierten Umsetzung der Agenda 2030 beizutragen. [fn]Vgl. Bundesregierung (2017), S. 51. [/fn] Geschehen ist seit 2015 allerdings wenig. Eine der wenigen gemeinsamen Aktionen dieser Gruppe war ein Brief an den neuen UN-Generalsekretär António Guterres, in dem die neun Staats- und Regierungschefs, einschließlich Bundeskanzlerin Merkel, den Generalsekretär aufriefen, die Agenda 2030 zu seiner „Top-Priorität“ zu machen. [fn]Vgl. www.swedenabroad.com/sv-SE/Ambassader/Bogota-DC/Aktuellt/Nyheter/2030-Agenda-High-Level-Group-lette…. [/fn]

Als etwas dynamischer erwies sich die von Deutschland unterstützte Partnership for Action on Green Economy (PAGE). [fn]Vgl. www.un-page.org/. [/fn] Diese Partnerschaft war bereits nach der Rio+20-Konferenz 2012 von den fünf UN-Institutionen UN Environment, ILO, UNIDO, UNDP und UNITAR ins Leben gerufen worden. Sie soll Länder bei der Neuausrichtung ihrer Wirtschaft(spolitik) nach ökologischen Kriterien unterstützen. Die zweite PAGE-Ministerkonferenz fand auf Einladung der Bundesregierung vom 26. bis 28 März 2017 in Berlin statt.

Eine originär deutsche Initiative ist das Netzwerk „Partners for Review“. [fn]Vgl. www.partners-for-review.de/. [/fn] Es versteht sich als „Transnational Multi-Stakeholder Network for a Robust Review Process of the 2030 Agenda for Sustainable Development.” Die Initiative soll Länder insbesondere darin unterstützen, ihre nationalen Berichte über die Umsetzung der Agenda 2030 an das HLPF vorzubereiten. Koordiniert wird das Netzwerk von einem Team der GIZ. Ein internationales Netzwerktreffen fand am 27.-28. März 2017 in Bogotá, Kolumbien statt.

Für diese diplomatischen Aktivitäten der Bundesregierung im Umsetzungsprozess der Agenda 2030 liegt die Federführung beim BMUB oder BMZ. Über sie gibt es kaum Kontroversen; der mit ihnen verbundene finanzielle Aufwand, aber auch ihr politischer Stellenwert sind jedoch vergleichsweise gering.

Anders sieht es bei Prozessen aus, die die internationale Wirtschafts- und Finanzpolitik betreffen und die für die Umsetzung der Agenda 2030 von essentieller Bedeutung sind. Denn ohne die notwendigen institutionellen und finanziellen Mittel zur Umsetzung (means of implementation, MoI) können die Agenda 2030 und ihre Ziele nicht realisiert werden. Und hier erwies sich die Bundesregierung, teils im Verbund mit ihren westlichen Verbündeten, immer wieder als Bremserin.

 

Beispiel Staateninsolvenzverfahren

Die UN-Generalversammlung hatte bereits 2014 mit großer Mehrheit die Einrichtung einer Arbeitsgruppe beschlossen, die sich mit der Schaffung eines fairen Verfahrens zur Lösung von Staatsschuldenkrisen unter dem Dach der Vereinten Nationen befassen sollte. Der Prozess wurde maßgeblich von der in der G77 zusammengeschlossenen Gruppe der Länder des globalen Südens vorangetrieben. Deutschland und einige andere Staaten blieben der Arbeitsgruppe fern, weil sie der UN grundsätzlich die Zuständigkeit für die Behandlung dieser Fragen absprechen. Dagegen wurde der Prozess hin zu einem Staateninsolvenzverfahren von Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz und auch von Papst Franziskus unterstützt. Am 10. September 2015 verabschiedete die UN-Generalversammlung als Ergebnis der Arbeitsgruppentätigkeit mit überwältigender Mehrheit Grundprinzipien eines Staateninsolvenzverfahrens (Basic Principles on Sovereign Debt Restructuring Processes). [fn]Vgl. UN Dok. A/RES/69/319. [/fn] Die Prinzipien orientieren sich maßgeblich an Vorschlägen der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD), an denen auch das deutsche Entschuldungsbündnis erlassjahr.de beteiligt war.

Gegen die Resolution in der Generalversammlung stimmten lediglich sechs Länder: Die USA, Großbritannien, Kanada, Japan, Israel und Deutschland.

 

Beispiel internationale Steuerkooperation

Bereits seit Jahren wird von Ländern der G77, Expertengremien und zivilgesellschaftlichen Organisationen die substantielle Stärkung der internationalen Steuerkooperation unter dem Dach der Vereinten Nationen gefordert. Sie soll dazu beitragen, Steuerflucht, schädliche Steuervermeidung und den Steuerwettlauf nach unten weltweit zu bekämpfen. Für die Befürworter besteht ein wesentliches Problem bei der Erarbeitung globaler Standards zur Besteuerung transnationaler Konzerne im Fehlen eines globalen Forums zur Kooperation in Steuerfragen, in dem alle Regierungen, egal ob aus dem globalen Norden oder Süden, gleichberechtigt beteiligt sind. [fn]Vgl. z.B. www.globalpolicywatch.org/?p=516. [/fn] Tatsächlich finden die internationalen Abstimmungen über Steuerthemen aber v.a. bei der Organisation der Industrieländer, der OECD, und im Club der 20 führenden Wirtschaftsnationen, der G20, statt. Die dort erarbeiteten Standards sind aber naturgemäß auf die Interessen ihrer Mitglieder ausgerichtet.

Länder der G77 haben aus diesem Grund in den vergangenen zehn Jahren immer wieder vorgeschlagen, ein zwischenstaatliches UN-Gremium für Steuerfragen einzurichten. Bei der dritten internationalen Konferenz über Entwicklungsfinanzierung in Addis Abeba im Juli 2015 gab es darüber heftige Debatten. Deutschland lehnte den Vorschlag im Verbund der EU ebenso ab, wie die USA und andere Industrieländer. Vor allem das Bundesfinanzministerium zeigte keinerlei Kompromissbereitschaft gegenüber den Vorschlägen der G77.

Stattdessen gelang es unter Federführung des BMZ lediglich, zur Stärkung der Steuerverwaltungen in Ländern des Südens die Addis Tax Initiative ins Leben zu rufen. [fn]Vgl. dazu www.addistaxinitiative.net/. [/fn] In ihrer gemeinsamen Erklärung verpflichteten sich die (Geber-) Länder damals, die Mittel für die technische Zusammenarbeit im Bereich Steuern und heimische Ressourcenmobilisierung bis zum Jahr 2020 gemeinschaftlich zu verdoppeln. [fn]Vgl. www.taxcompact.net/documents/Addis-Tax-Initiative_Declaration.pdf. [/fn] Diese Initiative ist zweifellos sinnvoll, kann aber kein Ersatz für die institutionelle Stärkung der UN in diesem Bereich sein.

 

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Beispiel Unternehmensverantwortung

Im UN-Menschenrechtsrat stimmte Deutschland im Juni 2014 mit einer Minderheit von Ländern gegen die Aufnahme von Diskussionen über einen Vertrag, der die menschenrechtliche Verantwortung von Unternehmen verbindlich regeln soll (UN-Treaty). Im Vorfeld hatte die Bundesregierung gemeinsam mit der EU Stimmung gegen diese Initiative gemacht. In einem Schreiben des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt Stephan Steinlein an die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) bezeichnete dieser die Initiative als „kontraproduktiv.“ [fn]Schreiben des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt Stephan Steinlein an die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) vom 27. Juni 2014. [/fn] Durch sie würden sich „neue Konfrontationslinien ergeben [...].“ Steinlein sicherte der BDA zu, dass sich die Ständige Vertretung Deutschlands in Genf „gemeinsam mit den Partnern in der Europäischen Union“ dafür einsetzen würde, „die Annahme dieses Resolutionsentwurfs durch den VN-Menschenrechtsrat abzuwenden.“

Nachdem dies nicht gelungen war, blieb Deutschland der ersten Tagung der für diesen Prozess eingerichteten Arbeitsgruppe des Menschenrechtsrates im Juli 2015 fern. Bei der zweiten Tagung der Arbeitsgruppe im Oktober 2016 war Deutschland zwar präsent, ergriff in den Diskussionen aber nicht das Wort und war bis auf einen Sitzungstag lediglich durch eine Praktikantin vertreten. In der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE äußert die Bundesregierung weiterhin Vorbehalte gegenüber dem Prozess. Sie sieht mögliche negative Auswirkung auf Akzeptanz und Umsetzung der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte und fürchtet, „dass der mit ihnen hergestellte internationale Konsens aufbricht und durch polarisierende Positionierungen das bisher Erreichte in Frage gestellt wird.“ [fn]Drucksache 18/10157 vom 27.10.2016 (http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/101/1810157.pdf). [/fn] Ein besonderes Anliegen ist der Bundesregierung die Einbeziehung der Wirtschaft in den Prozess. Sie plädiert dafür, „das Thema [Wirtschaft und Menschenrechte] im Sinne der Ruggie-Prinzipien durch einen breiten, partnerschaftlichen Ansatz voranzubringen und dabei die Wirtschaft als Partner einzubeziehen.“ [fn]Ebd. [/fn]

 

Beispiel Verbot von Kernwaffen

Die Bundesregierung steht aber nicht nur auf der Bremse, wenn es um die Stärkung der Vereinten Nationen und ihrer Rechtsinstrumente im Bereich Wirtschaft und Finanzen geht. Auch ein aktueller Verhandlungsprozess, der auf das weltweite Verbot von Atomwaffen zielt, wird von Deutschland boykottiert. Treibende Kräfte hinter dieser Abrüstungsinitiative sind Österreich, Brasilien, Irland, Mexiko, Nigeria und Südafrika. Diese Gruppe hatte 2016 in der UN-Generalversammlung eine Resolution eingebracht, die den Beginn von Verhandlungen über ein Atomwaffenverbot zum Ziel hat. Sie wurde von einer breiten Staatenmehrheit angenommen. Dagegen stimmten 35 Länder, darunter alle Atommächte und Deutschland. [fn]Vgl. https://nuclearban.de/. [/fn] Deutschland werde den Verhandlungen fernbleiben, weil die Initiative „gesinnungsethisch“ sei, hieß es aus dem Auswärtigen Amt. [fn]Vgl. www.sueddeutsche.de/politik/atomwaffen-koalition-der-hoffnungsvollen-1.3438526 und die deutsche Erklärung zu seinem Abstimmungsverhalten („explanation of vote“) unter www.icanw.org/wp-content/uploads/2016/10/EOV_Deutschland.pdf. [/fn] Ob diese Haltung die Unterstützung der G77 für einen nicht-ständigen Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat fördert, ist fraglich.

Alles in allem betreibt Deutschland in den Vereinten Nationen die Politik eines selektiven Multilateralismus. Im 2030-Prozess engagiert sie sich mit Vollgas, wenn es um die Unterstützung von freiwilligen Partnerschaftsinitiativen geht, die wenig kosten. Bei Initiativen, die auf die Stärkung der UN im Bereich internationaler Wirtschafts- und Finanzpolitik zielen, steht sie meist auf der Bremse. Die in SDG 17 beschworene Globale Partnerschaft erfordert aber gerade in diesen Politikbereichen die faire und gleichberechtigte Beteiligung aller Länder, einschließlich der Länder des globalen Südens. Und dies ist nur in den Vereinten Nationen möglich und nicht in exklusiven Clubs wie der G20, der OECD oder dem Pariser Club der Gläubigerländer.

Die neue Bundesregierung könnte ohne großen politischen Aufwand unter Beweis stellen, dass sie in kohärenter Weise bereit ist, einen demokratischen Multilateralismus unter dem Dach der Vereinten Nationen zu fördern. Gelegenheiten bieten sich dazu beispielsweise in den neu entfachten Diskussionen über internationale Steuerkooperation in der Generalversammlung und den Verhandlungen über einen UN-Treaty im Menschenrechtsrat. Wenn sie es mit dem in ihrer Bewerbung für den Sicherheitsrat beteuerten politischen Willen zur Verantwortung in den Vereinten Nationen ernst meint, sollte sie diese Prozesse konstruktiv unterstützen.

Jens Martens
Jens Martens
Name

Jens Martens

Jens Martens ist Geschäftsführer des Global Policy Forums.

Literature

Bundesregierung (2017): Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie. Neuauflage 2016. Berlin.
www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/Nachhaltigkeit-wiederhergestellt/2017-01-11-nachhaltigkeitsstrategie.pdf?__blob=publicationFile&v=14

Ständige Vertretung Deutschlands bei den Vereinten Nationen (2016): Deutschland, eine Stimme für Frieden, Gerechtigkeit, Innovation, Partnerschaft in den Vereinten Nationen. Berlin.
www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/735950/publicationFile/217614/Sicherheitsrat_Broschuere.pdf