Von Birgit Reich, Stefan Tuschen und Richard Klasen
Wenn es um die Umsetzung von SDG 16 geht, also um die Schaffung „friedlicher und inklusiver Gesellschaften“, denkt Politik gerne in großen Dimensionen: Staatenlenker und Regierungschefinnen treffen sich zu Friedensgesprächen, bei denen Warlords und religiöse Führer eingebunden werden. Auch dem Militär wird traditionell eine große Rolle bei der Schaffung von Frieden zugesprochen. In dieser Logik ist es vermeintlich notwendig, mehr Mittel in die Bundeswehr oder mehr Entwicklungsgelder für die Ertüchtigung der Armeen von Drittstaaten zu investieren. Es gibt aber zahlreiche Beispiele dafür, dass Frieden nicht von oben nach unten, also nach einem top-down-Ansatz, „verordnet“ werden kann. Das zeigen Beispiele aus Kolumbien und den Philippinen.
Die beiden Länder eignen sich zum Vergleich, weil es dort langjährige Friedensprozesse gibt. Diese stehen immer wieder von verschiedenen Seiten und Interessensgruppen unter Beschuss: So wird der Ausgleich mit den Rebellengruppen von der Mehrheitsgesellschaft in beiden Ländern kritisch beurteilt, während revolutionäre Splittergruppen die Friedensbemühungen konterkarieren. Dazu kommt, dass mit Rodrigo Duterte und Iván Duque beide Länder von Politikern geführt werden, deren Haltung zum Friedensprozess kritisch zu bewerten ist. Wie geht die Zivilgesellschaft in beiden Ländern damit um?
Kolumbien: Frieden und Versöhnung von unten
In Kolumbien gelten zehntausende Menschen als gewaltsam Verschwundene. Das Nationale Zentrum für historische Erinnerung [fn] Spanisch „Centro Nacional de Memoria Histórica“; vgl. www.centrodememoriahistorica.gov.co/de/nationales-zentrum-des-historisches-gedaechtnis (Inhalte in deutscher Sprache). [/fn] hat für den Zeitraum seit Ausbruch des gewaltsamen Konfliktes 1958 bis Ende 2017 rund 83.000 Fälle registriert. [fn] Vgl. www.centrodememoriahistorica.gov.co/noticias/noticias-cmh/en-colombia-82-998-personas-fueron-desapa…. [/fn] Für mehr als die Hälfte liegen Informationen über die Akteure des Verschwindenlassens vor: rund ein Viertel davon gehen auf das Konto verschiedener Guerrilla-Organisationen; in 75 Prozent der Fälle sind paramilitärische Gruppierungen, staatliche Akteure oder beide in Kooperation verantwortlich.
Während der Friedensverhandlungen zwischen der Regierung Santos und der FARC-Guerilla hatte sich die MISEREOR-Partnerorganisation Corporación Colectivo Sociojurídico Orlando Fals Borda (Colectivo OFB) gemeinsam mit anderen Organisationen dafür eingesetzt, dass eine Regelung für die Aufklärung dieses massiven Verschwindenlassens getroffen wird. Der 2016 geschlossene Friedensvertrag sieht im Rahmen des vereinbarten „Integralen Systems der Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nicht-Wiederholung“ [fn] Spanisch „Sistema Integral de Verdad, Justicia, Reparación y No-Repetición“. [/fn] die Einrichtung einer „Sondereinheit zur Suche der Verschwundenen“ vor. [fn] Spanisch „Unidad especial para la búsqueda de personas dadas por desaparecidas en el contexto y en razón del conflicto armado“; vgl. www.altocomisionadoparalapaz.gov.co/Documents/informes-especiales/abc-del-proceso-de-paz/abc-unidad…. [/fn] Das entsprechende Dekret hatte Ex-Präsident und Friedensnobelpreisträger Juan Manuel Santos im April 2017 unterzeichnet. Bis zum Amtsantritt seines Nachfolgers und scharfen Kritikers des Friedensvertrages, Iván Duque, konnte die Sondereinheit ihre Arbeit aufgrund von Blockaden im Kongress und mangels Budgetfreigabe jedoch nicht aufnehmen.
Umso wichtiger für die Angehörigen der Opfer sind die seit Jahren von zivilgesellschaftlichen Akteuren begleiteten Prozesse zur Aufklärung des Verschwindenlassens. In den abgelegenen Regionen gibt es kaum Akteure, die eine Nähe zu den Gemeinden aufbauen konnten. Das Colectivo OFB hat Synergien mit u.a. Bürgerkomitees und kleinbäuerlichen Vereinigungen erreicht und kann auf das Vertrauen der Gemeinden zählen. OFB engagiert sich politisch auf lokaler und regionaler Ebene, damit die anonymen Gräber schnell gefunden werden. Dazu trägt es Informationen über den Suchprozess in die abgelegenen Gemeinden und bringt Angehörige mit staatlichen Stellen in Kontakt, die verschwundene Personen suchen und identifizieren. Die Familien bekommen die Möglichkeit, das Schicksal ihrer verschwundenen Angehörigen zu klären und werden bei den Kontakten zu den Behörden begleitet, zu denen sie oft wenig Vertrauen haben. Die psychosoziale Begleitung von Angehörigen ist ein weiterer wichtiger Baustein des Ansatzes von OFB. Dazu zählt, sich auszutauschen und gemeinsam Abschied zu nehmen, wenn sterbliche Überreste von Verschwundenen übergeben werden. OFB berät die Familien der Angehörigen zudem in rechtlichen Fragen und übernimmt die juristische Vertretung bei nationalen und internationalen Instanzen, wenn es bspw. darum geht, Zeugen anzuerkennen.
Auf nationaler Ebene hat das Kollektiv einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass die kolumbianischen Justizbehörden mit den Vorarbeiten zur Aufklärung der Situation von verschwundenen Personen begonnen haben. Neue Herausforderungen ergeben sich im Rahmen der Übergangsjustiz. Damit das integrale System funktioniert, müssen noch zahlreiche Einrichtungen und gesetzliche Grundlagen geschaffen und vor allem Gelder freigegeben werden. Weil die im Rahmen der Friedensvereinbarungen geschaffenen Institutionen von der Hauptstadt Bogotá aus operieren, bleibt ein direkter Zugang der Opfer erschwert. Lokal operierende Organisationen wie das Colectivo OFB bleiben folglich von herausragender Bedeutung.
Methodisch hat sich das Zusammenspiel von Aufklärung, rechtlicher und psychosozialer Begleitung sowie politischer Einflussnahme als geeignet erwiesen, um Verbesserungen für eine angemessene Betreuung von Opfern von Menschenrechtsverbrechen zu erwirken und die Straflosigkeit des gewaltsamen Verschwindenlassens zu reduzieren. OFB leistet in Kolumbien einen wichtigen Beitrag zu Friedensaufbau und Versöhnung von unten, und trägt gleichzeitig zur Stärkung des Rechtsstaates und zur Respektierung der Menschenrechte bei. Die Unterstützung und Begleitung der Zusammenarbeit zwischen staatlichen Stellen und den Familien der Verschwundenen eröffnet neue Möglichkeiten, das grausame Geschehen aufzuarbeiten.
Philippinen: Indigene zwischen den Fronten
Der Friedensprozess in der philippinischen Region Mindanao zwischen der Regierung und den kommunistischen Rebellen hat seit dem Regierungsantritt von Präsident Rodrigo Duterte einen Rückschlag erlitten. Nach Dutertes Amtsantritt 2016 kam es noch zu einer Annäherung beider Seiten: Duterte selbst hatte Gespräche mit der Maoistischen Kommunistischen Partei der Philippinen (CPP) und deren bewaffnetem Flügel (New Peoples Army, NPA) neu angeschoben. Nach drei Verhandlungsrunden auf hoher Ebene in Oslo und Rom schien sich die Beziehung beider Seiten zunächst zu verbessern.
Für die Dauer der Verhandlungen hatten beide Seiten einseitige Waffenstillstände ausgesprochen. Doch während der Verhandlungen kam es von beiden Seiten aus zu lokal begrenzten, gewaltsamen Vorfällen. Beide Seiten verdächtigten sich darüber hinaus, den Waffenstillstand lediglich für strategische Vorbereitungen zukünftiger Kampfhandlungen auszunutzen. Im Februar 2017 rief der philippinische Präsident schließlich einen „kompromisslosen Krieg“ gegen die kommunistischen Kämpfer im Land aus. Kurz zuvor hatte die plötzliche Aufhebung der Waffenstillstände bereits zum Abbruch der Friedensverhandlungen geführt.
Unter den Kämpfen hat vor allem die indigene Bevölkerung zu leiden. Sie gerät oft zwischen die Fronten der beiden Konfliktparteien: So wird sie regelmäßig von beiden Konfliktparteien beschuldigt, die jeweils andere Seite zu unterstützen. Das führt zu gewaltsamen und tödlichen Vorfällen sowie zur Vertreibung ganzer Dorfgemeinschaften. Zeitgleich bietet die jahrzehntelange und strukturelle Benachteiligung der Indigenen einen fruchtbaren Boden für die ideologische Lehren und die Rekrutierung durch die NPA.
Das Forum Ziviler Friedensdienst (forumZFD) arbeitet vor allem in der Region Caraga mit Partnerorganisationen zusammen, die sich um die Belange und Bedarfe der indigenen Bevölkerung kümmern. Von der Provinzhauptstadt Butuan aus bildet das Team des forumZFD zivilgesellschaftliche Organisationen und lokale Gemeinschaften in gewaltfreier Konfliktbearbeitung aus. Die Organisationen werden dazu befähigt, zu gewaltsamen Konflikten zu arbeiten. Dabei geht es u.a. um Fragen der Ressourcengewinnung (Bergbau, Forstwesen, Landfragen), die oftmals den Kern der Konflikte zwischen regierungsnahen Kämpfern und Rebellen bilden. Die Organisationen intervenieren bei Konflikten vor Ort. Das forumZFD unterstützt sie im Hintergrund durch Begleitung, Beratung und Trainings vor und nach dem Kontakt mit den Konfliktparteien.
Obwohl die Arbeit des forumZFD und ihrer Partner zu niedrigschwellig und lokal begrenzt ist, um die kritische Aufmerksamkeit der Regierung zu erregen, hat das Projekt und seine Zielgruppe mit politischen, strukturellen und juristischen Problemen zu kämpfen: So wurden während der Ausrufung des „kompromisslosen Krieges“ Mitglieder der mit dem forumZFD kooperierenden Organisationen als Unterstützer der NPA bezeichnet. Derartige Zuschreibungen können gefährlich sein und betroffene Personen haben von der Teilnahme an Projektveranstaltungen Abstand genommen.
Mit strukturellen Benachteiligungen hat die Zielgruppe des Projekts, die indigene Bevölkerung, zu kämpfen: „Indigene Völker werden auf vielfältige Weise marginalisiert“, so Balazs Kovacs, Projektleiter des forumZFD in Mindanao: „Das betrifft wirtschaftliche Aspekte wie Vermögen, Einkommen oder Landtitel, ihre oftmals abgelegenen Wohnorte, die kulturelle Diskriminierung sowohl durch christliche als auch muslimische Kulturen oder Fragen der Erziehung und Bildung: Indigene Gemeinschaften verfügen oftmals über keinen Zugang zu staatlichen Schulen und ihre selbstverwalteten Schulen werden mitunter vom Militär als Trainingslager der Rebellion angesehen und bekämpft.“
Auf juristischer Ebene beklagt Kovacs den Antagonismus zwischen einer auf dem ersten Blick progressiven Gesetzgebung (de jure) und der regressiven Rechtslage (de facto) im Land: „Die Philippinen verfügen über eines der besten Gesetze zum Schutz indigener Rechte weltweit. Aber keines dieser Gesetze wurde umgesetzt. Dazu kommt, dass die schon angesprochene Armut innerhalb indigener Gemeinschaften ihren Mitgliedern den Zugang zum Rechtssystem oder zu Anwälten erschwert und das Wissen über Gesetze und Rechte innerhalb indigener Gesellschaften sehr gering ausgeprägt ist.“
Vor diesem Hintergrund und der Intensität des bewaffneten Konflikts ist die Zukunft des Friedensprozesses ungewiss. Hoffnungen machen die Unterstützung der Friedensprozesse durch weite Teile der hiesigen Bevölkerung und einiger Politiker.
Zivilgesellschaft als Schlüssel zur friedlichen Konfliktbearbeitung
Laut SDG 16 sollen zur Schaffung friedlicher und inklusiver Gesellschaften „leistungsfähige, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen auf allen Ebenen“ aufgebaut werden. Die genannten Beispiele zeigen, dass es sinnvoll ist, hier schon auf lokaler Ebene anzusetzen und dabei die Zivilgesellschaft einzubinden. Denn staatliche Stellen genießen bei der Umsetzung von Friedensverträgen oft kein großes Vertrauen in der Bevölkerung oder der Zivilgesellschaft – zumal wenn der Staat in abgelegen Regionen zu Konfliktzeiten nicht präsent war und/oder selbst als Konfliktpartei agierte. Dies mindert nicht die Pflicht und Verantwortung des Staates, gerade Friedensinitiativen von unten zu stärken, zu fördern und zu begleiten.
Das gilt nicht nur für das Agieren von (Post)-Konfliktstaaten, sondern auch für die Bundesregierung: Deutschland hat etwa die Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerrilla eng begleitet und unterstützt. Die Bundesregierung sollte daher ein besonderes Interesse daran haben, dass auch die neue kolumbianische Regierung den Verpflichtungen aus dem Friedensvertrag nachkommt. Gleichzeitig sollte die Durchführung großer bilateraler Friedensprogramme die Arbeit lokaler Friedensinitiativen von unten nicht zunichtemachen. Auch gegenüber der philippinischen Regierung sollte Deutschland auf eine Wiederaufnahme des Friedensprozesses mit der Maoistischen Kommunistischen Partei und der NPA hinwirken.
Deutschland täte gut daran, Friedensinitiativen zivilgesellschaftlicher Akteure in Konflikt- und Post-Konfliktländern stärker zu fördern. Nötig ist der spürbare, nachhaltige und stabile finanzielle und politische Ausbau ziviler Friedensförderung zur Umsetzung der Friedensdimension der Agenda 2030 in und durch Deutschland.
Birgit Reich
Birgit Reich bearbeitet die KolumbienProjekte in der Abteilung Lateinamerika bei Misereor.
Stefan Tuschen
Stefan Tuschen bearbeitet die KolumbienProjekte in der Abteilung Lateinamerika bei Misereor.
Richard Klasen
Richard Klasen arbeitet zur Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung beim Forum Ziviler Friedensdienst.