14 — Fischen und Bewahren: Über die Bedeutung traditionellen Wissens für den Schutz der Meere

Müllentsorgungsaktionen und Netzentfernungen zielen darauf ab, öffentliches Bewusstsein für Meeresschutz und die grassierende Plastikverschmutzung zu schaffen.
Müllentsorgungsaktionen und Netzentfernungen zielen darauf ab, öffentliches Bewusstsein für Meeresschutz und die grassierende Plastikverschmutzung zu schaffen.
© Friends of Marine Life.

Read this interview in English here.

Robert Pani Pilla im Interview mit Marie-Luise Abshagen

Der indische Bundesstaat Kerala hat eine 590 Kilometer lange Küste und zählt zu einem der artenreichsten Gebiete der Welt. Seit Jahrhunderten leben die Menschen dort vom Meer und den reichen Fischgründen. Doch wie an vielen Orten weltweit, werden auch hier Meer und Küste von der rapide fortschreitenden Industrialisierung und der globalen Meeresverschmutzung bedroht. Nicht nur die Meeresumwelt, sondern auch die kulturelle Identität und die Existenzgrundlage vieler Küstengemeinschaften ist gefährdet. Lokale Aktivist*innen und Organisationen arbeiten vor Ort daran, das politische und öffentliche Bewusstsein über die Meere und ihre Bedeutung für das Leben der Menschen zu stärken und somit die Einzigartigkeit der Region und die Lebensgrundlage der Menschen zu bewahren. Dass die Einbeziehung der Küstengemeinschaften und von Fischer*innen dabei ein zentrales Element im Meeresschutz ist, zeigt das Beispiel der Organisation Friends of Marine Life.

 

Wie sind Sie zum Meeresschutz gekommen?

Mein Vater und meine älteren Brüder sind traditionelle Fischer. Als ich jung war, sind sie stets aufs Meer vor meinem Dorf gefahren um dort an den steinigen Riffs zu fischen. Sie kamen immer mit sehr viel Fisch zurück. Damals fiel mir auf, dass die ortsansässigen Fischer vor allem tagsüber pelagische [fn] Das sind im offenen Wasser schwimmende Fische. Das Gegenteil dazu leben benthische Fische in der Nähe des Bodens; Anm. d. Red. [/fn] Fische auf ihren Streifzügen fingen. Fischer wie mein Vater, die zu jeder Tageszeit abhängig von den Jahreszeiten hinausfuhren, fingen wiederum ganz unterschiedliche Fischarten. Sie erzählten mir von den Orten, an denen sie fischten, der Beschaffenheit des Meeresbodens und den feinen Unterschieden im Verhalten der Fische.

Nachdem ich die Schule abgeschlossen hatte, arbeitete ich in einer NGO, die sich mit Forschung, Training und Organisation im Fischereisektor befasste. Ich konnte sehr eng mit vielen Fischereiwissenschaftler*innen zusammenarbeiten und ihre Arbeit kennenlernen. Der Wendepunkt kam dann für mich, als ich anfing, traditionelles und akademisches Wissen zu vergleichen.

Was ist Friends of Marine Life?

Friends of Marine Life (Freunde des Marinen Lebens, FML) ist eine Freiwilligenorganisation für indigene Küstengemeinschaften, die darauf abzielt, die marine Artenvielfalt und die Küsten-Ökosystemdienstleistungen in Südindien zu schützen. Seit einigen Jahren führt FML Studien über die Ökosysteme der Meeresböden durch. Geleitet wird das von einem Team, das sich aus erfahrenen Bürgerwissenschaftler*innen, Meeresbiolog*innen, Tauchern und Jugendlichen aus den Küstengemeinschaften zusammensetzt und von den indigenen Fischern unterstützt wird.

FML dokumentiert und erhält darüber hinaus das traditionelle und ortsspezifische Wissen der Küstengemeinschaften in Indien, insbesondere in den Bundesstaaten Kerala und Tamil Nadu. Mit den Meeresbodenstudien haben wir bisher den Golf von Mannar im Kanyakumari Distrikt in Tamil Nadu sowie die Distrikte Trivandrum und Quilon in Kerala abdecken können. Das sind um die 2.000 Quadratkilometer nahe der Küste und bis zu 43 Meter Tiefe im Seegebiet. Als ein Teil unseres Meeresbildungsprogramms führen wir Foto- und Videoausstellungen in Schulen, Universitäten und anderen akademischen Einrichtungen durch. Außerdem veröffentlichen wir unsere Erkenntnisse in den Medien, um unsere Aktivitäten bekannter zu machen und weiterzuverbreiten.

Im Rahmen der Umsetzung von SDG 14 haben wir vor Kurzem begonnen, in Südindien einige neue Aktivitäten durchzuführen. Dazu gehört die Entsorgung von Meeresmüll und Tauchgänge zur Entfernung von sogenannten Geisternetzen, die im Meer herumtreiben. Außerdem bilden wir Fischergemeinschaften im Rahmen von Tauchtrainings weiter.

FML hat eine interdisziplinäre, inklusive und gemeinschaftliche Arbeitsgruppe, die die Ziele und Aktionen der freiwilligen Aktivist*innen betreut. Die Aktionsprogramme unserer Organisation und deren Fortschritt wird ebenfalls von dieser Gruppe angestoßen, begleitet und überwacht. Sie konsultiert dafür Partnerorganisation, Mitglieder indigener Gemeinschaften, Regierungsvertreter*innen und andere Akteure, um angemessene Entscheidungen treffen zu können. Unsere Steuerungsgruppe überwacht die Entscheidungen, Maßnahmen und Aufgaben der Arbeitsgruppe und stellt sicher, dass gemeinsam erarbeitete Entscheidungen gefällt werden und die Organisation verantwortungsvoll handelt.

Wie unterscheidet sich FML von anderen Meeresschutzprojekten?

Wir nutzen Tauchgänge, um die marine Umwelt zu untersuchen. Wir dokumentieren dies anschließend und bauen somit einen wissensbasierten Ansatz für Schutzmaßnahmen auf. Die bereits erwähnten Müllentsorgungsaktionen und Netzentfernungen sollen auch darauf abzielen, ein öffentliches Bewusstsein über Meeresschutz und die grassierende Plastikverschmutzung zu schaffen. Dagegen muss dringend etwas getan werden. Im Gegensatz zu unserem Ansatz findet der Großteil der Meeresforschung in Indien im Labor statt. Selbst die seltene Feldforschung zu Korallen und Algen beschränkt sich oft nur auf das seichte Wasser bis 15 Metern Tiefe. Zudem befassen sich die Wissenschaftler*innen nur selten mit dem Leben der Kleinfischer.

Wie beteiligt FML Fischer und lokale Gemeinschaften am Meeresschutz? Und warum ist das wichtig?

Alle Studien von FML zur Meeresumwelt basierend auf indigenem und ortsspezifischem Wissen. Die Kleinfischer bestärken uns darin, noch mehr über den Meeresboden zu lernen. Erfahrung, das Wissen und die Anwesenheit von lokalen Fischereigemeinschaften sind sehr wichtig, um die Meeresumwelt zu schützen. FML führt deswegen Tauchtrainings für Bewohnerinnen und Bewohner der Küstengemeinschaften durch. An dieser Initiative beteiligen sich darüber hinaus auch Freitaucher, Studierende der Fischereiwissenschaften und Bürgerwissenschaftler*innen. [fn] Im Original „Citizen Scientists”. Damit werden Akteur*innen einer offenen Wissenschaft bezeichnet, bei der Projekte unter Mithilfe oder komplett von interessierten Laien durchgeführt werden. In Deutschland listet bspw. die Plattform Bürger schaffen Wissen Projekte der „Bürgerwissenschaft“: www.buergerschaffenwissen.de. Anm. d. Red. [/fn]

Bis heute gibt es keine Vertretung von Fischereigemeinschaften in der Küstenwache, der Küstenpolizei oder den Behörden für marine Angelegenheiten. Unsere Trainings zielen deswegen auch darauf ab, Arbeitsplätze für die lokale Jugend in Behörden zu schaffen.

Welche Aspekte von mündlichen Überlieferungen sind für den Schutz von Meeresökosystemen besonders relevant?

Unsere Erfahrung ist, dass Gemeinschaften von Kleinfischern ein deutliches größeres Wissen und mehr Erfahrung über bestimmte Bereiche der Meeresumwelt haben. Dazu gehört insbesondere der Meeresboden. Dieses Wissen müssen wir dokumentieren, einschließlich der mündlichen Überlieferungen. Beispielsweise haben wir herausgefunden, dass der Meeresboden neben dem Distrikt Thiruvananthapuram in Kerala aus 100 steinigen Riffen besteht, die mögliche Fischereizonen sein könnten. Die Kleinfischer wiederum kennen diese Gegend und die Umwelt dort sehr gut. FML dokumentiert dieses Wissen, fährt zu den Orten, und nutzt traditionelle Methoden, um das Vorhandensein der Riffe zu bestätigen. Wir können damit beweisen, dass das Wissen der Kleinfischer einzigartig ist.

Passen die Ergebnisse zu Ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen? Wie ist der Zustand der Meeresökosysteme in ihrer Region? Und kann deren Zustand durch die Aktivitäten von FML verbessert werden?

Ich sehe mich selbst als Bürgerwissenschaftler. Es ist also eher der Job der Wissenschaftsgemeinschaft, unsere Erkenntnisse mit der akademischen Forschung zusammenzubringen. Leider gibt es in Indien eher eine Geringschätzung für Bürgerwissenschaften. Die wird nur noch durch das absolute Fehlen von lokaler Meeresumwelt als Thema in den Lehrplänen unterstrichen. FML waren die ersten, die Unterwasseraufnahmen von den Gebieten gemachten haben, die für den Lebensunterhalt der Fischer zentral sind. Die Menschen lernen jetzt erst die Umweltprobleme kennen, die ihre Existenz gefährden.

Unsere Meeresbildungsprogramme sollen eine Verbesserung bringen. In unserer Gegend wurden durch zwei Jahre andauernde Aushubarbeiten für einen Hafen um die 30 Riffe zerstört. Die Umweltverträglichkeitsprüfung, die den Baumaßnahmen vorangestellt wurde, enthielt keine Informationen über diese Riffe. Hätten die Untersuchungen traditionelles und ortsspezifisches Wissen einbezogen, wäre diese Zerstörung nicht passiert. FML konzentriert sich deswegen jetzt auf die Stärkung der traditionellen Küstengemeinschaften vor Ort und die größtmögliche Dokumentation der Details des Meeresbodens. Und wir unterstützen Meeresbildung. Beides wird dann zu einem besseren Schutz des Meeresbodens vor Ort beitragen.

Wie reagieren Politiker*innen und die Regierung auf Ihre Aktivitäten? Gibt es Regulierung und politisches Bewusstsein für das Thema?

Als wir unsere Erkenntnisse lokalen Regierungsbehörden vorstellten, wurde deutlich, dass es das erste Mal war, dass diese sich mit den Eigenschaften und Problemen ihrer eigenen Küstengewässer auseinandersetzten. Aufgrund dieses fehlenden Wissens hatte es keine effektive Gesetzgebung zum Schutz der marinen Umwelt gegeben. Politiker*innen und Beamte wissen sehr wenig über die Meeresökologie, so dass sie manchmal gar nicht einschätzen können, wie Entscheidungen die Küsten- und Meeresumwelt beeinflussen. FML spielt hier eine wichtige Rolle, um Bewusstsein zu schaffen. Es freut mich aber zu sehen, dass sich einige Beamte jetzt ernsthaft zum Schutz der marinen Umwelt bekennen und entsprechend handeln.

Was wird FML als nächstes tun? Was sind die größten Herausforderungen in ihrer Arbeit und wo liegen die Grenzen?

Wir wollen unsere Arbeit noch energischer fortsetzen. Wissenschaftler*innen, Beamte und Politiker*innen haben den Schutz der Meere noch nicht in Entwicklungspläne für Indien integriert. Wir glauben nicht, dass ein top-down Ansatz Wissen, Erfahrung und Talent in Entwicklungsprojekte integrieren kann. Organisationen wie FML spielen eine zentrale Rolle, um mehr über die Meeresumwelt herauszufinden und diese zu schützen. Durch indigenes und ortsspezifisches Wissen können wir Wissenschaft mit Handeln verbinden. Eine der größten Herausforderungen ist jedoch, dass ehrenamtliche Gruppen, die sich hier engagieren, nicht genug Anerkennung und Unterstützung erhalten. Aber die Dinge verändern sich nach und nach. 2017 konnte ich FML auf der „Ocean Conference“ [fn] Siehe https://oceanconference.un.org/. [/fn] der UN in New York vertreten und unsere Arbeit dort vorstellen, auch dank der Unterstützung durch Brot für die Welt. Ich hoffe, dass wir noch weitere solcher Gelegenheiten bekommen werden.

Robert Pani Pilla
Robert Pani Pilla
Name

Robert Pani Pilla

Robert Pani Pilla ist Gründer und Koordinator von Friends of Marine Life.

Name

Marie-Luise Abshagen

Marie-Luise Abshagen ist Referentin für Nachhaltige Entwicklung beim Forum Umwelt und Entwicklung.